Dr. M. Razavi Rad
Direktor des Instituts für Human- und Islamwissenschaften
Wir lesen im Koran:
„Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt …“ (17:70)
Das bedeutet, bei Gott sind die Würde und die Rechte des Menschen unantastbar – ungeachtet dessen, welcher Religion, Rasse, Kultur usw. er angehört.
Der Wert des menschlichen Seins ist vor Gott gleich; deshalb spricht Gott hier über alle Menschen – ohne spezielle Anrede.
Ich selbst habe mich mehr als dreißig Jahre mit Religionen, speziell mit dem Islam beschäftigt, und wenn ich heute das Wesen der Religion und das soziale Grundprinzip des Islam in einem Satz zum Ausdruck bringen sollte, dann würde ich sagen, es ist nicht mehr und nicht weniger als die Einladung zur Gottergebenheit, Menschlichkeit und die Achtung von Stufe und Stellung des Menschen in der Schöpfung.
Man darf nicht vergessen, dass alle Menschen diese Rechte und Fähigkeiten haben: jeder Mensch muss würdig behandelt werden, auch wenn er nicht so denkt wie ich.
Jeder Mensch ist heilig, egal ob er meiner oder überhaupt einer Religion angehört oder nicht.
Die Anhänger der Religionen und der islamischen Schulen müssen sich heute darüber bewusst werden, dass unverantwortliche Prediger, unter Anwendung der verschiedensten Mittel, daran arbeiten, mit der Formulierung einer „unabänderlichen Wahrheit“ das Toleranzgebot sämtlicher Religionen und islamischen Schulen zu gefährden.
Die abrahamitischen Religionen können dieses Verhängnis aufhalten, indem sie sich auf ihre ethischen Grundwerte besinnen und damit zum Frieden beitragen. Freiheit und Frieden sind im Islam untrennbare Bestandteile der Religion und zwar in einem Maße, dass niemand sie einschränken oder verweigern darf. Nach meinem Verständnis vom Koran kann ich den Freiheits- und Friedensanspruch nicht einmal als ein menschliches Recht verstehen, vielmehr habe ich keine andere Definition für das menschliche und islamische Leben als Freiheit und Frieden.
Wie kann man ohne Freiheit und Frieden von einem menschlichen und islamischen Leben sprechen? Wenn man den Menschen seiner Freiheit beraubt, hat man ihm seine Identität genommen, weil die Grenze der menschlichen Identität im Vergleich zu anderen Lebewesen genau diese Freiheit ist.
Im Koran lesen wir:
“Und hätte dein Herr es gewollt, so hätten alle, die insgesamt auf der Erde sind, geglaubt. Willst du also die Menschen dazu zwingen, Gläubige zu werden?” (10:99)
Das bedeutet, niemals heißt der Koran Zwang gut, und es ist nicht die Absicht Gottes, dass die Menschen um jeden Preis gläubig werden, wie der Koran klar feststellt:
“Und sprich: ’Es ist die Wahrheit von eurem Herrn.’ Darum lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will.” (18:29)
Deshalb hat die Einschränkung der Freiheit des Menschen im Islam keine religiöse Rechtfertigung, vielmehr verurteilt der Koran jegliche Gewalt und Gewaltherrschaft .
Wie kann man also die Ansicht vertreten, der Koran oder der Prophet würden Freiheit und Frieden des Menschen beeinträchtigen? Und wie können wir religiös rechtfertigen, als gläubige Menschen über die Akzeptanz oder Ablehnung der anderen wachen zu müssen?
Der Prophet sagte:
„Das Fundament meines Denkens ist auf Liebe und Zuneigung errichtet.“
Grundlage der Offenbarung und der Entsendung von Propheten ist, dass die Menschen von ihrer gottgegebenen Vernunft Gebrauch machen und Toleranz ausüben.
Zweifellos können Religionen mehr noch als tolerant, in aller Harmonie und enger Verbundenheit zusammenleben, vorausgesetzt, dass sie die gemeinsame Lebensmitte und deren grundlegende Prinzipien erkennen. Fern von jeglichem Fanatismus und mit der richtigen Erkenntnis voneinander sind sie in der Lage, die Täuscher und Neider, welche den Fanatismus zu schüren versuchen, aufzuhalten.
In dem Maße, wie die Toleranz in der Gesellschaft eine konstruktive Rolle spielt, spielt Aggressivität darin eine destruktive Rolle. Toleranz ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern sie ist ein individuelles und soziales Erfordernis.
Die Schriften der Religionen beinhalten die reinsten und schönsten Muster für eine aktive Toleranz, die auf Anerkennung und Dialog fußt. Deshalb ist die Religion in ihrem Kern nicht aggressiv, allerdings können spezielle Interpretationen von der Religion manch einen zu Aggressivität verleiten.
Von Bedeutung ist die Einsicht, dass der Weg in einer Rückkehr zu Menschlichkeit und zu ethischen Grundsätzen zu finden ist, denn für die Welt gibt es kein besseres Rezept als ein moralisches Menschsein.
Tolerant bleiben bedeutet, andere Religionen und Kulturen respektvoll zu behandeln. Eine solche Haltung bedeutet den Verzicht auf eine stufentheoretische Wahrnehmung des Menschen in erster und zweiter Klasse und die Anerkennung von Werten und Normen der Völker.
Tolerant bleiben bedeutet, Menschen so wahrzunehmen, wie sie sind, und nicht, wie wir sie haben wollen.
Tolerant bleiben bedeutet, jegliche Schwarz-Weiß-Sichtweise zu vernachlässigen, Gerechtigkeit zu suchen, Parteilichkeit zu vermeiden und die Würde der Mitmenschen zu schützen.
Die Grundlage intoleranter Gedanken zeugt von einer absolut falschen Theorie, die da lautet: “Sämtliche Tugenden, Wahrheiten und Reinheiten sind nur in uns vereint, und sämtliche Verdorbenheiten, Falschheiten und Unreinheiten finden wir bei unseren Gegnern”. Dieser endgültige Beschluss ist nichts anderes als Brennholz für das Feuer der Feindschaft und Intoleranz.
Toleranz bedeutet den Weg der Mitte zu beschreiten. Imam Ali sagte:
“ …die Lebensführung des Propheten war gemäßigt und sein Brauch war die Vernunft…“,
d. h. sie war ohne Übertreibung und ohne Nachlässigkeit.
Der Prophet sagte:
“Das Gute der Dinge ist ihre Mitte“.
Wenn wir zu einer Welt in Gelassenheit und Frieden zurückkehren möchten, benötigen wir vernunftgeleitete Menschen, die den Stellenwert der Freiheit und des Friedens für den Menschen kennen. Wir brauchen Menschen, die sich ihren Mitmenschen gegenüber verantwortlich fühlen, solche, die ihre Freude mit anderen teilen und schließlich Menschen, die aus sich heraus einsichtig sind.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog - Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 14 • Heft 26 & 27 • Jahr 2015