Dr. M. Razavi Rad
Direktor des Instituts für Human- und Islamwissenschaften
usw. verschwinden und Unwerte wie Zweigesichtigkeit, Heuchelei usw. sich verbreiten. Zweifellos ist die Freiheit eine Notwendigkeit für den Menschen, und wenngleich er ein gesellschaftliches Wesen ist, bedarf er der Freiheit ebenso wie er Wasser oder Luft zum Leben braucht. Es gilt, verantwortlich mit der Freiheit umzugehen, damit sie nicht missbraucht wird oder zur Gefahr wird, wie z. B. vergiftetes Wasser oder vergiftete Luft. Nach Tocqueville ist die Religion ein Garant der Freiheit, wie auch die Freiheit eine definitive Bedingung für eine lebendige Religion ist. Wenn der Mensch die von den Weltgesellschaften und Religionen anerkannte Freiheit ignorieren will, wird er sich ernsthaften Problemen gegenübersehen. Gerade in unserer Epoche, in der viele Mächte ihre Macht missbrauchen oder von einer machiavellistischen Freiheit sprechen, die letztlich der individuellen und gesellschaftlichen Identität widerspricht.
Das Recht auf Bildung und Gedankenfreiheit
Ein Grundrecht des Menschen ist das Recht auf Bildung, denn dieses ist die Voraussetzung für Sicherheit, und diese geht wiederum der Tat voraus. In diesem Sinne sollte man von einem Menschen mit rudimentärer religiöser Bildung nicht erwarten, dass er sein Leben religiös gestaltet. Ebenso kann man von einem Menschen, der die Gesetze nicht kennt, kein zivilrechtlich verantwortliches Verhalten erwarten. Der Koran sagt: “Und verfolge nicht das, wovon du keine Kenntnis hast.” (17:36), d. h. man soll sich für nichts engagieren, über das man keine Kenntnis hat. Diese Betonung der Kenntnis und des Verstandes unterscheidet den Islam von anderen Anschauungen. Und dieser Aspekt wird auch im Verhalten der großen islamischen Persönlichkeiten und des Propheten deutlich. Imam Ali sagte z. B. zu seinem Gefährten Kumayl, dass er sich von einer Sache fernhalten solle, wenn er keine Kenntnis darüber hat. Es ist logisch, dass man ohne Kenntnis keine richtige Entscheidung treffen kann. Deshalb möchte der Prophet, dass ihm Gott die Wahrheit der Phänomene deutlicher macht.
Erwähnen muss ich noch, dass ebenso wie jeder Mensch verpflichtet ist, Kenntnis und Wissen zu erlangen, auch die für Kultur und Bildung Verantwortlichen in einer Gesellschaft verpflichtet sind, den Menschen die entsprechenden Möglichkeiten bereitzustellen. In unserer Epoche sind nicht jedem alle Informationen zugänglich, d. h. in dieser Hinsicht gibt es eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit, gegen die man jedoch angehen muss, d. h. man muss versuchen, informiert zu sein, weil Sieg oder Niederlage, Macht oder Machtlosigkeit im Bewusstsein des Menschen wurzeln, d. h. Information prägt sein Bewusstsein. Im Bereich der Religion verhält es sich ebenso. Wenn unsere religiöse Kenntnis unserer Zeit entspricht, wird sie den Menschen zu einem engagierten religiösen Menschen werden lassen; ist die Kenntnis von der Religion hingegen oberflächlich und entspricht sie nicht dem Geist der Zeit, resultieren daraus Isolation, Rückschrittlichkeit und geistige Stagnation und letztlich der Untergang einer Gesellschaft.
Gedankenfreiheit
Wissbegier und die Suche nach der Wahrheit liegen dem menschlichen Denken zugrunde. Das Denken und Reflektieren ist eine besondere Fähigkeit des Menschen, und wenn diese Fähigkeit auf logischen Prinzipien basiert, wird sie wertvolle Ergebnisse hervorbringen. Im Koran lesen wir: “Wahrlich, als die schlimmsten Tiere gelten bei Allah die Tauben und die Stummen, die keinen Verstand haben.” (8:22) D. h. vor Gott ist der schlechteste Mensch jener, der nicht die Wahrheit hören und sehen will und nicht nachdenkt. Ein persischer Dichter sagte: “Der Unterschied zwischen Mensch und Vieh ist das Denkvermögen”, und er führt weiter aus, dass eine Stunde Nachdenken über den Sinn der Religion wertvoller sei als das jahrelange Ausführen religiöser Rituale, ohne darüber nachgedacht zu haben. Deshalb betont der Islam das Recht des Menschen auf Nachdenken, weil dies sein eigentliches Menschsein ausmacht. In einer prophetischen Überlieferung heißt es, dass der Mensch erst durch Denken seine menschliche Persönlichkeit entwickelt, oder wie es in einem persischen Gedicht heißt: “O Mensch, du bist reiner Gedanke, sonst bestehst du aus Knochen und Haut; wenn dein Gedanke einer Blume gleicht, bist du wie ein Garten, und wenn dein Gedanke einem Dorn gleicht, bist du wie Brennholz für den Ofen.” Die Menschlichkeit des Menschen steht also wie sein religiöses Bewusstsein in direkter Beziehung zu seiner Vernunft. Der Prophet hat treffend gesagt: “Wer keine Vernunft hat, hat keine Religion.” Aber nicht nur der Unvernünftige kann nicht religiös sein, sondern auch die Religion darf nicht unvernünftig sein. Im Koran wird deshalb der Weg, der zu rationalem Denken und zu Vernunft führt, betont. Es ist kein Zufall, dass Gott die Menschen in mehr als 300 Versen zum Denken einlädt. Je mehr die Religion diskutiert wird, desto manifester wird die göttliche Wahrheit sein, und im Gegenteil dazu wird die Religion ihre rationale Anziehungskraft verlieren, wenn sie von den Menschen nur oberflächlich anerkannt wird. Der Prophet sagte: “Wehe denen, die den Koran lesen, aber nicht darüber nachdenken”, denn diese werden nicht viel davon haben, und der aus einem falschen Koranverständnis resultierende Schaden ist für den Gläubigen ungleich größer.
Leider ist die Denkkultur in den islamischen Gesellschaften gegenwärtig nicht vorbildlich. Wie kann man auf eine bessere Zukunft für die Muslime und den Islam hoffen, wenn die Muslime die Nachahmung der Nachforschung vorziehen? Einen Augenblick nachzudenken ist wertvoller als 70 Jahre zu beten, und Rumi dichtete: “Schön gesagt hat es der Prophet: ein wenig Verstand ist besser als Fasten und Gebet; denn das Wesentliche ist der Verstand, und die anderen zwei vervollständigt der Verstand.”
Grundlage der Philosophie der Offenbarung und der Entsendung von Propheten zu den Menschen ist die Idee, um mit Imam Ali zu sprechen, dass die Menschen von ihrer Vernunft Gebrauch machen. Gott hat den Menschen Gesandte geschickt, damit sie das Recht Gottes nicht vergessen und ihre Zukunft mittels Argumentation und Beweisführung gottorientiert gestalten (vgl. Nahju-l-Balagha, Predigt 1, S. 6). Nun frage ich: mit welchem Recht wird das Denken unter Strafe gestellt und sollen Denker bestraft werden? Welche Menschen können besser die Religion leben, jene, über die der Koran sagt, dass sie dem folgen, was sie bei ihren Vätern vorgefunden haben (vgl. 2:170) oder jene, deren Glaube auf Vermutung basiert? Es ist denkbar, dass es religiöse Menschen gibt, die den tiefen Sinn der Religion nicht verstanden und letztlich keine Zukunft haben. Die Zukunft der Religion jedoch ist klar, denn ihre Bedeutung steigt mit dem Verständnis der Menschen vom Sinn des Universums.
Den Widerspruch zwischen Vernunft und Religion haben jene verursacht, die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen und Wahrheiten unverantwortlich umgegangen sind. Vernunft und Religion ergänzen sich, d. h. die Menschheit kann die Botschaft der Religion erst durch Denken besser verstehen und praktizieren. Ich wundere mich über jene, die in unserer Zeit leben und die Macht der Vernunft ignorieren. Die Stellung der Vernunft ist so hoch, dass einige Denker jede Tat, die von der Vernunft gutgeheißen wird, als gut ansehen. Die Vernunft macht das Wesen der menschlichen Existenz aus, und der unvernünftige Mensch gleicht einem Gedicht ohne Reim. Nach Habermas ist die Entscheidung für einen unvernünftigen Weg ebenso zu rechtfertigen wie die Wahl eines vernünftigen Weges, da die Entscheidung für einen der beiden Wege nichts anderes als Wissen und Ethik zum Ausdruck bringt. Es steht für mich fest, dass solche Theorien auf Erfahrung basieren. Wenn der Mensch keine neuen Fragen stellen würde, würden wir keine Fortschritte machen wie z. B. in der Technik und Wissenschaft. Diese Regel gilt insbesondere auch in der Philosophie, denn Philosophieren ist nichts anderes als Infragestellen, kontinuierliches Infragestellen, und folglich ist die Philosophie eine Notwendigkeit des Lebens. Ausgrenzung von Gedanken und Vernachlässigung dieser menschlichen Fähigkeit kommt der Isolierung der menschlichen Existenz gleich. Interessant ist, dass jede Art der Auseinandersetzung mit der Existenz der Vernunft letztlich die Notwendigkeit der Vernunft beweist. Man kann nur vernünftig an die Vernunft herangehen, und jede vernünftige Auseinandersetzung bewirkt eine Vertiefung der Kultur der Vernunft. Im Unterschied zur Vergangenheit gibt es heute in der Philosophie die Bereitschaft zur geistigen Auseinandersetzung, die zur Blüte und Entwicklung der Philosophie beigetragen hat. Wenn mit dieser geistigen Auseinandersetzung verantwortlich umgegangen wird, wird das Ergebnis positiv und der Menschheit dienlich sein. Problematisch wird es jedoch, wenn diese Diskussion den Aspekt der Feindseligkeit annimmt, denn eine solche Diskussion kommt nur Zeitvergeudung gleich.
Al Kindi hat sich als erster islamischer Philosoph mit den Grundprinzipien der Philosophie beschäftigt, und seine und auch die in der Zeit von al Gazzali geführten Diskussionen hätten den Muslimen die besten Gelegenheiten zu einer Vertiefung der Thematik bieten können. Doch die Schriften gegen die Philosophie wie z. B. Tahafut al falasifa und die unvollständige Antwort von Ibn Rushd darauf, bewirkten Unsicherheit und eine Ablehnung der Philosophie unter den Muslimen. Hätte Ibn Rushd seine Philosophie detailliert dargelegt und Gazzali widerlegt, hätten sich die Muslime viel intensiver mit der Philosophie beschäftigt. Sicherlich spielte auch die Einflussnahme der damaligen politischen Herrscher eine wesentliche Rolle, die diese Atmosphäre zu ihrem eigenen Vorteil nutzten. Nach dieser Zeit wurden die Philosophie und die Philosophen in der islamischen Welt isoliert und unterdrückt, denn die politischen Akteure im 3. und 4. Jh. n. H. hatten keinerlei Interesse an einer Aufklärung in der islamischen Zivilisation. Ein solch bitteres Geschehen, egal wann es geschieht, vernichtet die Logik der Philosophie, wenn nicht sogar jede Art von Wissenschaft und verhindert geistige Erneuerung. Der Fortschritt und die Entwicklung der heutigen Philosophie ist das Ergebnis von Diskussionen. Philosophen wie Ibn Sina, Mulla Sadra und Suhrawardi haben die philosophischen Diskussionen vertieft, und Ibn Sina hat in seinem Werk Al Isharat wa-t-Tanbihat die Mystik und Logik des Islam miteinander verbunden. Wer die Philosophie Mullâ Sadras kennt, wird ebenfalls bestätigen können, dass seine Philosophie pluralistischer Natur ist, denn er verbindet verschiedene philosophische Ideen. Jeglicher Dogmatismus, künstliche Begrenzungen, Bekämpfung der Logik usw. sind folglich mit der Welt des Denkens unvereinbar. Wir sehen heute, dass wir zur Erforschung der Wahrheit der Dinge auf alle wissenschaftlichen Disziplinen, die sich gegenseitig ergänzen, angewiesen sind. Wenngleich die Wissenschaften sehr unterschiedliche Sprachen haben, beseitigen sie letztlich den Schleier von der Wahrheit. Ein Erlernen der Wissenschaftssprachen verdeutlicht uns z. B. die Verbindung von Physik und philosophischer Argumentation. Wie könnte ein Mystiker jemals ohne Zuhilfenahme der Vernunft das Wesen des Universums verstehen, und wie könnte ein Philosoph ohne den Koran zum Gottesbeweis gelangen? Wir sehen, dass die Wissenschaften eng miteinander verbunden sind – warum sollte also ein vernünftiger Gedankenaustausch unter Denkern und Wissenschaftlern schwer sein?
Hinsichtlich der Meinungsfreiheit gilt: solange unterschiedliche Meinungen nicht geäußert werden, wissen wir nicht, was die Wahrheit ist und was nicht. Meinungsfreiheit ist die Voraussetzung für das Denken. Rumi sagt: “Der Mensch ist unter der Zunge versteckt, und diese Zunge ist für den Menschen ein Vorhang.” Sprache schließt viele Geheimnisse der Menschheit in sich, und wie ein offenes Fenster kann sie den Blick auf die Gedanken und Hauptakteure der Diskussionen freigeben oder aber, wenn sie unverantwortlich benutzt wird, große Fehler bewirken. Wenn mit diesem Recht auf Meinungsfreiheit unvernünftig und ungerecht umgegangen wird, ist es für alle schädlich. Rumi sagt weiter: “Die Sprache ist wie ein Stein, ein Stück Eisen. Was sie verursacht, gleicht einem Feuer, und ein Wort kann eine Welt vernichten.” Ein Wort gleicht einem Pfeil, der viele Menschen verletzen kann. Mittels Sprache kann man die Wahrheit in Unwahrheit verkehren und umgekehrt. Deshalb sollte die Sprache immer ein Mittel der Vernunft sein. Das bedeutet aber nicht, dass man alles sagen kann, weil der Zuhörer vernünftig sein soll, denn der Mensch ist kein Gott, der die geheimen Absichten der Menschen kennt. Auf diesen Aspekt verweist Rumi in seiner Geschichte von Moses und dem Hirten: “Ich achte nicht auf das Äußere oder was sie sagen sondern nur auf das, was sie in ihren Herzen tragen.” Kurz gesagt möchte ich zwei Pflichten des Menschen hervorheben: erstens sollte er seine individuellen Wünsche äußern und Rechte beanspruchen, zweitens dabei jedoch die Wünsche und Rechte der Gesellschaft nicht verletzen.
Religion und Demokratie
Zunächst stellt sich die Frage nach einer eindeutigen These zur Demokratie. Historisch gesehen gilt Athen als Modell für die Kultur der Demokratie, obgleich die beiden großen Persönlichkeiten jener Zeit, Aristoteles und Platon, davon nicht begeistert waren. Platon sorgte die Naivität der Massen, und Aristoteles sah in der Demokratie eine falsche Form für die Regierung der Mehrheit. Die Gründer der Vereinigten Staaten sahen Demokratie als Heuchelei und Ausdruck von Unwissenheit an, in der zunächst nur die Männer wählen und das Schicksal der Gesellschaft bestimmen konnten. Einstein berichtet, er habe einmal mit einem klugen Amerikaner gesprochen und ihn vor der Gefahr des Krieges und der daraus resultierenden Vernichtung der Menschheit gewarnt, woraufhin jener ihn fragte, warum er dagegen und um die Menschheit besorgt sei? Will Durant stellte in der Blüte der Demokratie die Frage, ob die Demokratie verloren habe, und er erklärte: Je mehr ich die Demokratie untersuche, desto bewusster wird mir deren Unfähigkeit und Heuchelei. Die Unwissenheit der Masse und deren Instrumentalisierung durch die politischen Akteure sieht er als Ursache für das Scheitern der Demokratie an. Für Spengler ist die Demokratie dadurch charakterisiert, dass sie nur den Reichen nützt.
Ebenso wie im Laufe der Zeit Pluralismus unterschiedlich definiert wurde, gibt es auch verschiedene Definitionen von Demokratie, denn wie André Lalande in seinem 1926 publizierten “Vocabulaire technique et critique de la philosophie” (S. 783) feststellt, besteht die Welt aus Menschen mit verschiedenen individuellen, eigenständigen Identitäten, die nicht einfach als einheitliches oder absolutes Phänomen vorstellbar sind. Die rechtfertigende Verteidigung der Demokratie im 17. und 18. Jh. durch Jean Jacques Rousseau und John Locke haben zu gesellschaftlicher Akzeptanz und Gültigkeit geführt, und letztlich Entwicklungsformen und Demokratieformen institutionalisiert, die eine Verbreitung der Kultur der Demokratie bewirkten. Heute spricht Habermas von einer kommunikativen Kommunikation und propagiert die Verwirklichung einer Demokratie, an der die Masse mehr Anteil hat; er sieht die Vernunft als notwendige Voraussetzung von Demokratie und eine friedliche Machtübergabe und praktizierung als Grundlage für die Zufriedenheit der Masse an. In diesem Sinne kann man die modernste und am weitesten entwickelte Form der Demokratie als legitime Partizipation der Masse verstehen. Es gibt aber auch andere Interpretationen von Demokratie, die oftmals sogar widersprüchlich sind und in einer möglichen Instrumentalisierung resultieren können, was die Funktionalität der Demokratie gefährden würde. Dieses Problem sehen jene, die einen Missbrauch der Demokratie befürchten (W. Röhrich). Deshalb soll jede Instrumentalisierung der Demokratie verhindert werden. Die schlimmste Form einer solchen Instrumentalisierung zeigt sich in einer Erzwingung der Demokratie, wie z. B. gegenwärtig in Amerika, wo die Menschen wie auch in Europa mehrheitlich gegen den geführten Irakkrieg sind. Diese Schwäche der Demokratie ist eine bittere Erfahrung, die deutlich macht, ob menschliche Gesellschaften Demokratie brauchen oder nicht. Gleichermaßen werden Verbrechen, die im Namen des Islam begangen werden, keinen Verzicht der Muslime auf den Islam bewirken. Es gibt keine einheitliche Erscheinungsform der Demokratie, über die Konsens herrscht.
Sind die Demokratien in Frankreich und Irland, Italien und England oder den USA und Indien gleich? Gleichen sich die Demokratie in Irak und den Niederlanden? Wurzelt die Demokratie eines Landes nicht in der Denkstruktur, Kultur usw. seiner Bevölkerung? Wenn es sich so verhält, warum sollte es diesen Menschen dann nicht erlaubt sein, eine für sie geeignetere Definition von Demokratie zu finden? Ist es kein Widerspruch in sich, von einem einzigen Demokratiemodell auszugehen? Darf man schließlich jemanden dafür kritisieren, dass er für ein bestimmtes Demokratiemodell eintritt? Und widersprechen jene, die im Namen der Demokratie ein bestimmtes Wirtschafts, Politik, Kultur und Rechtsprechungsmodell empfehlen, nicht dem Selbstbestimmungsrecht der Masse? So erscheint die im Grunde humane Demokratie als Instrument der politischen Machthaber der Weltherrschaft, und was hier und da im Namen der Demokratie geschieht, ist weder legitim und human, noch wird es von der Mehrheit der Menschen auf dieser Erde unterstützt. Die Demokratie erscheint wie ein Messer, das angefertigt wurde, um Apfelsinen oder Gurken zu schälen, aber stattdessen zum Schälen der Haut von Menschen benutzt wird. Deshalb muss der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Demokratie überwunden werden, damit die Menschen daran glauben. Man sollte aber auch nicht denken, die Demokratie sei das Ende der Geschichte, und ohne sie sei alles unvollständig oder mit ihr alles beendet. Versagt die kreative Kraft des Menschen in der Epoche des Postmodernismus etwa, so dass wir denken könnten, es würde nichts Neues geboren, das humaner, vollkommener und funktionsfähiger als die Demokratie sein kann? Warum sollte der fortschrittliche Mensch unserer Zeit, der sich vom Dogmatismus befreit hat, von anderen Konzepten als der Demokratie beunruhigt werden?
Die Demokratie resultiert aus Pluralismus, der auf Vielfalt und Mannigfaltigkeit basiert. Toleranz ist ein Merkmal des Pluralismus, während Dogmatismus damit unvereinbar ist. Stärke kennzeichnet die Demokratie, die niemals vom Dogmatismus bestimmt werden kann. Einen Vergleich zwischen Religion und Demokratie halte ich für sachlich nicht richtig, dennoch will ich versuchen, dies kurz und einfach darzustellen. Die Geschichte im Sinne eines Zeugnisses des menschlichen Bemühens vergangener Generationen lehrt uns, wie auch Soziologen und Historiker bestätigen, dass Gedanken, die nicht auf reiner Vernunft und Gedankenfreiheit basieren, früher oder später dogmatisch und absolut werden und letztlich Gedanken zerstören. Der Islam belegt seine Wahrheit mit Beweisen, und folglich kann man keine argumentativen Theorien ablehnen. Ich halte die Demokratie für die Menschen trotz aller Mängel für eine erfolgreiche Erfahrung, die Machtkonzentration und missbrauch verhindern. Alvin Toffler sagt, dass Macht auf drei Säulen basiert: Herrschaft, Besitz und Wissen. Ich glaube, dass Pluralismus, der auf Vernunft basiert, jede Art von Despotismus, ob alt oder neu, ob einheimisch oder fremd, verhindert, und wir haben mit eigenen Augen den Untergang des Despotismus und der Unfreiheit und den Sieg der Demokratie gesehen.
Kenntnis vom Islam verdeutlicht, dass er Prinzipien impliziert wie Ablehnung von Rassen und Geschlechterdiskriminierung, die Notwendigkeit der Beteiligung des Volkes an der Macht, die Beachtung der Menschenrechte, freie Wahlen usw. – Prinzipien, auf denen auch die Demokratie basiert. Wenn der Islam Pluralismus und Vielfalt ablehnen würde, hätte er dies klar zum Ausdruck gebracht; doch im Gegensatz dazu heißt es im Koran: “Sprich: ,O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns und euch, dass wir nämlich Allah allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Allah.’…” (3:64) Die Anerkennung anderer Religionen und Gedankenfreiheit ist ebenso wie die Distanzierung von Dogmatismus und Despotie ein Zeichen der Vollkommenheit des Islam, was Imam Ali mit folgenden Worten zum Ausdruck brachte: “Jede dogmatische Stimme verursacht Untergang.”
Es scheint, dass der Gebrauch bestimmter Begriffe wie z. B. “religiöse Herrschaft der Masse”, “Zivilgesellschaft”, “religiöser Pluralismus” usw. in bestimmten islamischen Gesellschaften mit dem Bestreben kluger Menschen in diesen Gesellschaften einhergeht, auf der Erfahrung der anderen aufbauend ein neues Demokratiemodell zu entwickeln, das mit der Kultur, Gesellschaft und Politik dieser Gesellschaften kompatibel ist. Zweifellos ist eine Kopie der westlichen Demokratie in anderen Gesellschaften unvernünftig; vielmehr müssen die Erfahrungen der Menschen in der westlichen Welt mit der Demokratie berücksichtig werden und die Menschen selbstbewusst ihre Probleme lösen lassen.
In diesem Artikel habe ich versucht, unter Berücksichtigung aller Stärken und Schwächen der Demokratien in der Welt, festzustellen:
- Demokratie ist für den heutigen Menschen eine Notwendigkeit, auch wenn sie Schwächen wie z.B. Instrumentalisierung, aufweist.
- Die Betonung freier Wahlen in der Demokratie als bester Methode zur Verhinderung von Anarchie und Machkonzentration bei einer Partei oder Person – auch wenn dieser Aspekt in der Welt zuweilen missbraucht wird – widerspricht nicht den islamischen Prinzipien sondern wird von diesen vielmehr unterstützt.
- Demokratie kann in verschiedenen Ländern je nach Gesellschaft und Kultur unterschiedlich geprägt sein.
- Die Gestalt und Inhalte der Demokratie müssen offen bleiben, und jeglicher Dogmatismus stellt eine Gefahr für die Demokratie dar.
- Die internationale Gemeinschaft muss ein Garant der Demokratie sein, damit diese nicht von einzelnen Supermächten missbraucht werden kann.
- Die praktische Verwirklichung von Demokratie und die Beteiligung der Mehrheit der Menschen an ihrem Schicksal bedarf einiger Voraussetzungen, die von vielen demokratischen Staaten absichtlich oder aus Nachlässigkeit unberücksichtigt bleiben, so dass nicht die Masse am politischen Prozess beteiligt ist, was jedoch die Kontinuität der Demokratie garantiert. Praktisch entscheidet eine bestimmte Gruppe für alle anderen, was dem Verständnis von Demokratie im Grunde widerspricht, und das hat der heutige Mensch nicht verdient.
- Jeder Gesellschaft muss eine ihren Verhältnissen entsprechende Interpretation von Demokratie zugestanden werden, und andere demokratische Rezepte dürfen nicht aufgezwungen werden.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog - Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 2 • Heft 4 • 2. Halbjahr 2003