Mehdi Golschani
In mehr als zehn Prozent der Qur’anverse sehen wir, dass auf Naturphänomene Bezug genommen wird. Es ist ein Thema von grundlegender Bedeutung, die Art von Botschaft zu entdecken, die die sogenannten wis-senschaftlichen Verse für uns bereithält, und wie wir davon profitieren können. Es gibt in dieser Sache zwei Ansichten:
Die eine Ansicht besagt, dass der heilige Qur’an Wissen aller Art umfasst und daher die Grundbestandteile aller Naturwissenschaften enthält. Die zweite nimmt an, dass der Qur’an lediglich ein Buch der Rechtleitung ist und es darin keinen Platz für die Wissenschaften der Physik und Natur gibt. Zuerst werden wir diese beiden Ansichten etwas ausführlicher erläutern und dann versuchen, unsere eigenen Ansätze zu formulieren.
Der Qur’an als Quelle wissenschaftlicher Erkenntnis
In unserem Zeitalter finden wir viele Menschen, die versuchen, einen Teil der Qur’anverse im Lichte unserer gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu interpretieren. Ihre Hauptzielsetzung besteht darin, das Wunder des Qur’an im wissenschaftlichen Bereich aufzuzeigen, um Nichtmuslime von der Herrlichkeit und Einzigartigkeit des Qur’an zu überzeugen und Muslime zu veranlassen, stolz darauf zu sein, dass sie eine solche großartige Schrift haben. Die Sichtweise jedoch, die den Qur’an als Quelle allen Wissens betrachtet, ist nicht neu, und wir finden viele große muslimische Gelehrte der Vergangenheit, die Vertreter dieser Ansicht waren. Einer davon ist Imam al-Ghazali. In seinem Buch Ihya‘ 3ulum ad-din (Die Wiederbelebung der religiösen Wissenschaften) zitiert er Ibn Mas3ud „Wenn man Kenntnis von den Wissenschaften der antiken Klassiker und der Neuzeitigen haben möchte, sollte man über den Qur’an nachdenken.“ Er fügt hinzu: „Kurz gesagt, sind alle Wissenschaften in den Werten und Attributen Allahs eingeschlossen, und der Qur’an ist die Erläuterung Seines Wesens, Seiner Attribute und Seiner Werke. Es gibt keine Begrenzung dieser Wissenschaften, und im Qur’an gibt es einen Hinweis auf ihre Vereinigung.”1
In seinem anderen Buch jawahir al-Qur‘an (Die Juwelen des Qur’an), das nach der Ihya‘ verfaßt wurde, hat er noch mehr zu dieser Angelegenheit zu sagen. In dem Kapitel über „Die Abstammung der Wissenschaften der Klassiker und der Zeitgenössischen vom Qur’an“ sagt er: „Die Prinzipien dieser Wissenschaften, die wir aufgezählt haben, und derer, die wir nicht spezifiziert haben, liegen nicht außerhalb des Qur’an, denn alle die-se Wissenschaften sind einem der Meere von Gottes Wissen entnommen – Er sei gepriesen – d. h. dem Meer Seiner Werke. Wir haben bereits erwähnt, dass der Qur’an (wie) ein uferloses Meer ist, und ,Wenn das Meer Tinte wäre, die Worte meines Herrn (niederzuschreiben), dann wäre si-cherlich das Meer erschöpft, bevor die Worte meines Herrn ein Ende fänden.‘ zu den Werken Gottes – Er sei gepriesen – die (ihrer ungeheuren Größe wegen) als Meer Seiner Werke (bezeichnet werden können), gehören z. B. auch Heilung und Krankheit, wie Er – Er sei gepriesen – Abrahams Worte wiedergab; ‚Und wenn ich krank werde, ist Er es, der meine Gesundheit wieder herstellt…‘ Dieses einzelne Werk kann nur von je-mandem erkannt werden, der die Wissenschaft der Medizin vollständig kennt, denn diese Wissenschaft bedeutet nichts anderes als die Kenntnis aller Aspekte der Krankheit mitsamt ihren Symptomen und die Kenntnis ihrer Heilung und deren Mittel. Zu Gottes Werken gehört (auch) die Bestimmung des (menschlichen) Wissens von Sonne und Mond und ihren Stationen nach festgelegter Berechnung, wie Gott – Er sei gepriesen – sagte: ,Sonne und Mond bewegen sich nach einer festgelegten Berechnung.‘
Wenn wir weiterhin Einzelheiten göttlicher Werke aufzählen würden, auf die die Verse des Qur’an hinweisen, dann würde es viel Zeit beanspruchen. Nur ein Hinweis auf ihr Zusammenströmen ist (hier) möglich, und wir haben einen solchen erbracht, wo wir davon sprachen, dass die Kenntnis der göttlichen Werke zur Gesamtsumme des Wissens Gottes – Er sei gepriesen – gehört. Jene Gesamtsumme schließt die Einzelheiten mit ein. Gleichermaßen wird sich jedes Teilgebiet, das wir kurz beschrieben haben, in viele Einzelheiten verzweigen, wenn es weiter unterteilt wird.
Denkt darum über den Qur’an nach und sucht seine wunderbaren Bedeutungen, so dass ihr vielleicht in ihm das Zusammenströmen der Wis-senschaften der Klassiker und der Neuzeitigen und die Gesamtsumme ihrer Anfänge erfahrt. Das Nachdenken über den Qur’an soll nur von der kurzen Beschreibung dieser Wissenschaften bis zu ihrer detaillierten Kenntnis reichen und ist (wie) ein uferloses Meer.“2
Auch As-Sayuti (gest. 911/1505) vertritt dieselbe Ansicht.3 In seinem Buch al-Itqan fi 3ulum al-Qur‘an versucht er, die Behauptung zu vertreten, dass der Qur’an alle Wissenschaften enthält, mit Versen wie den folgenden: „Nichts haben Wir in dem Buche ausgelassen…“ (Sure 6:38).
„Und Wir haben dir das Buch herabgesandt, das alles deutlich erklärt…“ (Sure 16:89) und prophetischen Überlieferungen wie der folgenden:
„Der Prophet sagte: ,Es wird Übel geben.‘ Er wurde gefragt: ,Was kann uns davor retten?‘ Er antwortete: ,Allahs Buch; darin gibt es die Nachricht von dem, was vor euch geschehen ist und die Nachricht von dem, was nach euch geschehen wird…‘“ argumentiert er, dass der Qur’an die Wissenschaften der Klassiker und der Neuzeitigen enthält. Darüber hinaus sagt er:
„Allahs Buch enthält alles. Es gibt keinen grundlegenden Teilbereich und kein Problem irgendeiner Wissenschaft, für die es im Qur’an keine Hinweise gäbe. Im Qur’an findet man die wundersamen Aspekte der Geschöpfe, die spirituellen Dimensionen der Himmel und der Erde, was sich an den erhabensten Punkten des Horizonts befindet und was unter der Erdscholle liegt, den Anbeginn der Schöpfung…“4
Diese Anschauung finden wir auch bei muslimischen Gelehrten neuerer Zeit. Beispielsweise sagt 3Abd ar-Rahman al-Kawakibi (gest. 1902) in seinem Buch „Tab3 al-Istibdad“ (Die Natur des Despotismus):
„In den vergangenen Jahrhunderten hat die Wissenschaft zahlreiche Fakten enthüllt, und diese werden ihren Entdeckern zugeschrieben, die Europäer oder Amerikaner waren. Aber diejenigen, die den Qur’an sorgfältig untersuchen, finden, dass die meisten dieser Fakten explizit oder implizit vor dreizehn Jahrhunderten im Qur’an erwähnt wurden; und die-se sollten nicht verborgen bleiben, sondern bei ihrer Entdeckung ein Wunder des Qur’an zeigen und darauf hinweisen, dass es das Wort des Herrn ist, der allein das Verborgene kennt.“5
Und unter den Vertretern dieser Ansicht befindet sich Mustafa Sadiq ar-Rafi3i. Im Qur’an – so sagt er – finden sich viele Hinweise auf wissenschaftliche Fakten, und die moderne Wissenschaft trägt dazu bei, die Bedeutungen einiger Qur’anverse zu interpretieren und ihre Fakten zu entdecken.6 Auch Shaykh Muhammad Bakhit sagt: „Wer meint, der Qur’an sei ein Buch zur Darlegung der (islamischen) Gesetze und zur Gesetzgebung, der geht der Wahrheit aus dem Weg. Der Qur’an ist die Quelle aller Wissenschaften und der menschlichen Zivilisation. Mit seinen Aussagen und Hinweisen hat der Qur’an Beweismaterial für Wesen und Ei-genschaften aller Dinge und ihrer quantitativen und qualitativen Veränderungen und enthält alle Wissenschaften, die sich mit den äußeren Realitäten befassen, seien sie himmlisch oder irdisch.“7
An dieser Stelle ist es notwendig, zu erwähnen, dass das Motiv der frühen 3Ulama‘, den Qur’an als Quelle aller Wissenschaften zu betrachten, aus ihrer Überzeugung stammt, dass der Qur’an allumfassend ist, aber die neueren Gelehrten betonen, während sie daran glauben, mehr den Beweis des Wunderbaren des Qur’an im wissenschaftlichen Bereich. Darum versuchen sie, den Qur’an den Erkenntnissen der zeitgenössischen Wissenschaft anzupassen.
Einige von ihnen glauben, dass es in den neuen Erkenntnissen der Wissenschaft nichts gäbe, was nicht im Qur’an vorausgesagt worden wä-re. Beispielsweise versucht ax-Xanxawi in seinem Qur’ankommentar die Ergebnisse der Physik und der Naturwissenschaften aus dem Qur’an he-rauszulesen, und befürchtet, nicht lange genug zu leben, um alle Erkenntnisse der Wissenschaft und Technologie im Qur’an zu finden. Dennoch ist er froh, dass die Entdeckungen bis heute auf die prophetische Kraft des Qur’an hinweisen.8
Er versucht sogar, unbewiesene wissenschaftliche Theorien mit dem Qur’an zu vereinbaren. In unserer Zeit finden wir eine enorme Zunahme an Aktivitäten dieser Art, und einige muslimische Gelehrte wollen alle Erkenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaft aus dem Qur’an herauslesen und damit die wunderbare Natur des Qur’an und seine Überlebensfähig-keit beweisen. Beispielsweise sagt 3Abd ar-Razzaq Nawfal in sei-nem Buch Der Qur’an und die moderne Wissenschaft:
„Wenn wir also den Nicht-Arabern beweisen, dass der Qur’an die Grundsätze der modernen Wissenschaft enthält und jedes neue wissenschaftliche Phänomen bereits erwähnt hat, ist dann diese Art Wunder des Qur’an nicht genug, ihre Aufmerksamkeit auf den Qur’an zu lenken? … Ist nicht das wissenschaftliche Wunder des Qur’an der Weg, Nicht-Araber, zum Islam zu ziehen? …An dem Tag, da wir die Übertragung dessen, was der Qur’an vorausgesagt hat, in verschiedenen Sprachen vervollständigt haben, ist unser Auftrag abgeschlossen und unsere Botschaft übermittelt, und die Wundernatur des Qur’an wäre Nicht-Arabern deutlich.“9
Und Maurice Bucaille sagt: „Der Qur’an folgt den beiden Offenbarungen, die ihm vorausgingen, und ist nicht nur frei von Widersprüchen in seinen Erzählungen, dem Anzeichen verschiedener menschlicher Mani-pulationen, wie sie in den Evangelien zu finden sind, sondern liefert eine ganz eigene Qualität für diejenigen, die ihn objektiv und im Lichte der Wissenschaft betrachten, nämlich seine vollständige Übereinstimmung mit modernen wissenschaftlichen Daten. Darüber hinaus sind darin (wie bereits aufgezeigt wurde) Aussagen zu finden, die mit der Wissenschaft verbunden sind; und dennoch wäre es unvorstellbar, dass ein Mensch in Muhammads Zeit ihr Autor sein könnte. Moderne wissenschaftliche Erkenntnis ermöglicht uns daher, gewisse Verse des Qur’an zu verstehen, die bisher unmöglich zu interpretieren waren.”10
Einige Autoren haben sich große Mühe gegeben, jeden wichtigen Gedanken der zeitgenössischen Wissenschaft aus dem Qur’an herauszuziehen, und haben bei diesen Bemühungen den normalen Gebrauch der arabischen Sprache überdehnt. Beispielsweise behaupten einige, die Idee des Atoms und der subatomaren Teilchen sei im Qur’an erwähnt; um dies zu beweisen, beziehen sie sich auf folgende Verse:11 „Und auch nicht eines Stäubchens Gewicht ist auf Erden oder im Himmel verborgen vor deinem Herrn. Und es gibt nichts, ob noch ein kleineres als dies oder ein größeres, das nicht in einem deutlichen Buche stünde.“ (Sure 10:61).
„Nicht einmal das Gewicht eines Stäubchens ist vor Ihm verborgen in den Himmeln oder auf Erden; noch gibt es etwas Kleineres oder Größeres als dieses, das nicht in einem deutlichen Buche stünde.“ (Sure 34:3) Hier identifizieren sie das arabische Wort Darra mit Atom, während die übliche Bedeutung „kleine Ameise“ oder „winziges Stäubchen“12 war, und es gibt keinen überzeugenden Grund, anzunehmen, Allah habe eine Terminologie gebraucht, die die Zeitgenossen unseres Propheten nicht verstehen konnten.
Die Bemühungen, eine heilige Schrift mit der zeitgenössischen Wis-senschaft in Einklang zu bringen, sind nicht auf Muslime beschränkt. Auch Christen versuchen, moderne Wissenschaft aus der Bibel herauszulesen, und Juden haben dasselbe mit dem Alten Testament getan. Auch sie betrachten es als Zeichen für die Gültigkeit ihres Buches.
Der Qur’an als Buch der Rechtleitung
Die zuvor erwähnte Anschauung über die wissenschaftliche Dimension des Qur’an liegt bereits seit alter Zeit unter Beschuss. Abu Ishaq ap-Paxibi (gest. 790/1388), einer der frühen Gegner dieser Ansicht, argu-mentiert, dass unsere tugendhaften Vorfahren mehr Wissen über den Qur’an hatten als wir und doch nicht über diese Art von Wissenschaften sprachen, und dies ist ein Hinweis dafür, dass sie nicht annahmen, der Qur’an enthalte solche Angelegenheiten.13 Ap-Paxibi bezieht den Qur’an-vers „Wir haben nichts in dem Buch ausgelassen…“ (Sure 6:38) auf die Pflichten, für die wir verantwortlich sind und gottesdienstliche Handlungen und identifiziert das Wort Buch in diesem Vers mit der „wohlbewahrten Tafel“ (wie in Sure 85:22 erwähnt).
Die zuvor erwähnte Ansicht wurde auch in neuerer Zeit von einigen bekannten Gelehrten kritisiert. Ihre Argumente können folgendermaßen zusammengefasst werden:
1. Es ist richtig, qur’anische Worte in einer Art und Weise zu interpretieren, die den Arabern zur Zeit des Propheten nicht bekannt war.
2. Der Qur’an wurde nicht offenbart, um uns Wissenschaft und Tech-nologie zu lehren, vielmehr ist er ein Buch der Rechtleitung. Darum liegt es außerhalb seiner Zielsetzung, von Physik und Naturwissenschaften zu sprechen. Der Sinn der zuvor erwähnten Verse (d. h. Suren 6:35 und 16:82) ist der, dass der Qur’an alles enthält, was für unsere Rechtleitung und Glückseligkeit notwendig ist (sowohl in dieser Welt wie im Jenseits).
3. Die Wissenschaft hat noch nicht das letzte Stadium ihres Fortschrittes erreicht. Darum ist es nicht richtig, den Qur’an nach veränderlichen Theorien zu interpretieren. Eine bestimmte Theorie ist zu einer Zeit sehr verbreitet, wird dann aber durch eine andere abgelöst. Das Ptolemäische System war lange Zeit verbreitet und wurde dann aufgegeben. Es ist falsch, anzunehmen, der Heilige Qur’an stütze widersprüchliche Theorien. Hervorragende muslimische Wissenschaftler der Vergangenheit wie Ibn Sina, al-Biruni, ax-Xusi, Ibn al-Haytam usw. suchten auch keine wissenschaftlichen Formeln im Qur’an, obwohl sie vollkommen davon überzeugt waren und über sehr viel Wissen darüber verfügten. Darüber hinaus hätten wir, wenn wir die Spur aller wissenschaftlichen Theorien und Formeln im Qur’an finden könnten, nichts weiter als eine wissenschaftliche Enzyklopädie wie andere verfügbare Enzyklopädien. Die Anpassung des Qur’an an instabile Theorien der Wissenschaft beinhaltet auch die Gefahr, dass sie die Stabilität qur’anischer Faktoren bedroht und unakzeptablen Interpretationen Tür und Tor öffnet.
4. Es ist Allahs Wille, dass Menschen die Geheimnisse der Natur durch den Gebrauch ihrer Sinne und ihres Intellekts entdecken. Würde der Heilige Qur’an alle Wissenschaften der Natur enthalten, dann würde der menschliche Intellekt träge werden, und die menschliche Freiheit würde sinnlos. Wie Scheich Muhammad 3Abduh sagte: „Wenn es Aufgabe des Propheten wäre, die Wissenschaften der Natur und Astronomie zu erklären, dann wäre dies das Ende der Aktivitäten der menschlichen Sinne und des Intellekts, und das würde die menschliche Freiheit verderben… Ja, der Prophet riet den Leuten kurz, von ihren Sinnen und ih-rem Intellekt Gebrauch zu machen in Bezug auf alles, was ihr Wohlergehen vergrößert, ihr Wissen erweitert und ihre Seelen schließlich weiterbringt…. Darum sind die Zugänge zu diesen Wissenschaften der Intellekt und das Experiment, nicht Überlieferung und religiöse Wissenschaften.“14
Unsere Ansicht
Wir glauben, dass der Heilige Qur’an ein Buch der Rechtleitung für die menschliche Entwicklung ist und alles enthält, was Menschen im Bereich des Glaubens und Handelns brauchen. Wir betrachten ihn weder als wissenschaftliche Enzyklopädie noch glauben wir, dass es rechtens ist, den Heiligen Qur’an veränderlichen wissenschaftlichen Theorien anzupassen. Andererseits kann man nicht leugnen, dass der Qur’an Bezugnahmen auf einige Naturphänomene enthält. Aber diese haben nicht den Zweck, Wissenschaft zu lehren, sondern werden vielmehr als Hilfsmittel benutzt, um die Aufmerksamkeit der Menschen auf Allahs Herrlichkeit zu lenken und sie Ihm damit näher zu bringen.
Wir glauben auch, dass der Fortschritt der Wissenschaft es leichter macht, gewisse Abschnitte des Qur’an zu verstehen. Folgender Vers beispielsweise: „Haben die Ungläubigen nicht gesehen, dass die Himmel und die Erde in einem einzigen Stück waren, dann zerteilten Wir sie? Und Wir machten aus Wasser alles Lebendige.“ (Sure 21:30) bezieht sich auf die Evolution des Sonnensystems und die Rolle des Wassers im Leben, und der Vers „Und von allem haben wir Paare erschaffen, damit ihr euch besinnt.“ (Sure 51:49) setzt uns über die Polarität in Kenntnis, die überall in der Schöpfung deutlich wird. Die moderne Wissenschaft macht es viel leichter, diese Art von Versen zu verstehen. Kurz gesagt ist unsere Ansicht über die wissenschaftliche Interpretation dieselbe wie die von Scheich Musxafa al-Marage’i, dem verstorbenen Rektor der Al-Azhar-Universität, wie sie in seiner Einführung zu Isma‘il Papas Islam und die moderne Medizin zum Ausdruck kommt.
„Es ist nicht meine Absicht zu sagen, dass dieses heilige Buch, in Ein-zelheiten oder zusammengefasst, alle Wissenschaften in der Art eines Lehrbuches enthält; ich möchte vielmehr sagen, dass es allgemeine Grundsätze enthält, mit deren Hilfe wir alles herleiten können, das für die physische und spirituelle Entwicklung der Menschen zu wissen notwendig ist. In der Tat ist es die Pflicht der Forscher, die mit verschiedenen Wissenschaften befasst sind, den Leuten die Einzelheiten zu erklären, die bis zu ihrer Zeit bekannt sind…
Es ist wesentlich, (die Bedeutung) eines Verses nicht so weit zu überdehnen, dass uns dadurch ermöglicht wird, ihn im Licht der Wissenschaft zu interpretieren. Man sollte auch (die Interpretation) wissenschaftlicher Fakten nicht so weit dehnen, dass man sie an einen Qur’anvers anpassen kann. Wenn jedoch die offenkundige Bedeutung eines Verses mit einer bewiesenen wissenschaftlichen Tatsache übereinstimmt, interpretieren wir diesen Vers mit Hilfe dieser Tatsache.“15
Wenn wir den Qur’an den philosophischen Schulen der Wissenschaften einer Zeit anpassen, gelangen wir zu dem Punkt, wo wir in einer Zeit des vorherrschenden Positivismus einen muslimischen Gelehrten finden, der versucht, seine Philosophie aus dem Qur’an herzuleiten, indem er sie als die Grundlage qur’anischer Weisheit betrachtet16 und die Tatsache übersieht, dass seine Ansicht keinen Platz für Metaphysik oder ein trans-zendentes Wesen mehr lässt.
Dennoch würden wir sagen, dass es, obwohl der Qur’an keine wissenschaftliche Enzyklopädie ist, es in den Versen, die Naturphänomene betreffen, eine wichtige Botschaft gibt, und muslimische Wissenschaftler sollten ihre Aufmerksamkeit lieber auf diese Botschaft konzentrieren als sich mit den Wunderaspekten des Qur’an im wissenschaftlichen Bereich oder seiner Übereinstimmung mit der zeitgenössischen Wissenschaft zufrieden zu geben.
Die Botschaft des Qur’an für muslimische Wissenschaftler
Wie sehr wohl bekannt ist, gibt es mehr als 750 Qur’anverse, die sich mit Naturphänomenen befassen. Wir denken, dass diese Verse eine wichtige Botschaft für muslimische Wissenschaftler beinhalten. Unserer Ansicht nach sind folgendes die wesentlichen Punkte dieser Botschaft:
A) In diesen Versen wird das Studium aller Aspekte der Natur und die Entdeckung der Schöpfungsgeheimnisse empfohlen.
„Und in eurer Erschaffung und darin, was Er an Tieren verstreut, sind Zeichen flir Leute, die Gewissheit haben.“ (Sure 54:4).
„Sprich: ,Betrachtet, was in den Himmeln und auf Erden ist…‘“ (Sure 10:101).
„Sprich: ,Reist doch auf Erden umher und seht, wie er die erste Schöpfung hervorbrachte.‘“ (Sure 29:20).
Nach dem Qur’an sollen wir unsere Sinne und den Intellekt zum Verständnis der Natur nutzen, und dies wird uns dazu führen, die Herrlichkeit und Erhabenheit Allahs zu schätzen. Wie es 3Allamah Xabaxaba‘i formuliert: „Der Qur’an lädt ein zum Nachdenken über himmlische Zeichen, die strahlenden Sterne und die Verschiedenheiten ihrer Zustände und die systematische Ordnung, die sie regiert. Er ermutigt zur Betrachtung über die Schöpfung der Erde, der Meere, der Gebirge, die Schöpfung von Pflanzen und Tieren, der Menschen und ihrer inneren Welt. Auf diese Weise lädt er dazu ein, die Wissenschaften der Natur und Mathematik und aller anderen Gebiete zu studieren, deren Kenntnis im Interesse der Menschheit liegen und der menschlichen Gesellschaft Glückseligkeit bringen. Der Qur’an lädt unter der Voraussetzung zu diesen Wissenszweigen ein, dass die Menschen durch diese Kenntnisse zur Wahrheit geleitet werden. Andernfalls ist ein Wissen, das der Unterhaltung dient und die Erkenntnis Gottes und der Wahrheit behindert, im Vokabular des Qur’an gleichbedeutend mit Unwissenheit.“17
Wenn der Heilige Qur’an nahe legt, dass wir uns auf der Erde umsehen, um den Ursprung der Schöpfung herauszufinden, bedeutet dies, dass wir durch unsere Bemühungen wissenschaftliche Fakten erarbeiten müssen. Es widerspricht dem Geist des Qur’an, dass Muslime träge bleiben, während andere Zugang zu den Geheimnissen der Natur erlangen, und dass wir dann ihre Ergebnisse benutzen und von ihnen abhängig sind.
Nach dem Heiligen Qur’an können wir Zugang zur Naturerkenntnis erhalten, indem wir unsere Sinne und unseren Intellekt benutzen. In der Tat liegt der Hauptgrund dafür, dass unsere großen Gelehrten in der Blü-tezeit der islamischen Kultur ihre Aufmerksamkeit fremden (z. B. grie-chischen) Wissenschaften zuwandten, darin, dass der Qur’an das Studium der Natur betont.
Sie studierten die Natur, um die Geheimnisse der Schöpfung zu entdecken und der Weisheit und Macht Allahs bewusst zu werden. Al-Biruni hat ausdrücklich gesagt, dass die Motivation hinter seiner Forschung auf dem Gebiet der Wissenschaft Allahs Worte im Qur’an waren, „…und nachdenken über die Schöpfung der Himmel und der Erde: Unser Herr, Du hast dies nicht umsonst erschaffen…“ (Sure 3:191) womit die Menschen von der Notwendigkeit überzeugt werden, über die Schöpfung der Himmel und der Erde nachzudenken, eine Schöpfung, die sinnvoll und nicht nutzlos ist.
Das Studium der sogenannten wissenschaftlichen Verse im Qur’an sollte Muslime motivieren, sich mit der Physik und den Naturwissenschaften auseinander zu setzen und sich nicht mit den Andeutungen zufrieden zu geben, die da gemacht werden.
B) Die zuvor erwähnten Verse besagen, dass alles in der Welt Ordnung und Ziel hat, und dass es in Allahs Werken keinen Mangel gibt.: „…und Er erschuf alles, dann ordnete Er es gründlich.“ (Sure 25:2).
„Und Wir haben den Himmel und die Erde und was zwischen ihnen ist nicht zum Scherz erschaffen.“ (Sure 21:16).
„Du siehst keinen Mangel in der Schöpfung des Erbarmers. Schau noch einmal: siehst du irgendwelche Unordnung? Dann lass deine Augen zurückkehren, immer wieder, und dein Blick kehrt zu dir zurück, verwirrt und erschöpft.“ (Sure 67:3-4).
C) Der Qur’an lädt uns ein, die Naturgesetze (d. h. Allahs Muster im Universum) zu erkennen und sie für das Wohlergehen der Menschen zu nutzen, ohne die Grenzen der Pari3a zu überschreiten: „Sonne und Mond folgen einem berechneten Kurs. Und der Himmel – wir haben ihn erhoben und den Maßstab aufgestellt. Darum überschreitet nicht das Maß.“ (Sure 55:5-8).
Selbstverständlich soll die Nutzung materieller Mittel zur spirituellen Entwicklung der Menschen führen und nicht zu ihrem Verfall.
D) In der qur’anischen Sichtweise sind alle Wissenschaften verschiedene Manifestationen einer Welt, die von Gott geschaffen wurde und beherrscht wird. Darum sollte ihre Zusammenfassung ein winziges Bild von der Welt ergeben.
E) Schließlich ist eines der wichtigsten Dinge, die wir aus dem Qur’an in Bezug auf die Wissenschaft lernen, seine einzigartige Weltsicht und Erkenntnistheorie. Der größte Teil des Übels, das aus dem Wachstum der Wissenschaften entstanden ist, hat seinen Ursprung in der materialistischen Betrachtungsweise, die die moderne Wissenschaft begleitet. Der Qur’an warnt uns vor solchen Fußangeln und informiert uns über die Hindernisse für eine korrekte Naturerkenntnis. Er lehrt uns, welche Werkzeuge wir zur Erkenntnis der Natur benutzen sollen und was uns daran hindert, diese Werkzeuge angemessen zu benutzen.18 Kurz gesagt, wir glauben, dass folgende die wichtigsten Lehren aus den sogenannten wissenschaftlichen Versen des Qur’an sind:
1. Der Entdeckung der Natur durch menschliche Sinne und Intellekt sollte Priorität eingeräumt werden.
2. Der Heilige Qur’an gibt uns die korrekte Weltsicht.
1. Abu Hamid al-Gazali, “Ihya‘ ‘ulum ad-din”. (Dar al-Ma’rifa), Bd. l, S. 289.
2. Abu Hamid al-Gazali „The Juwels of the Qur’an“, Übers. v. Muhammad ‘Abd al-Qasim (Routledge&Kegan Paul, 1983) S. 45-48.
3. M. H. al-Dahabi, „al-Tafsir wal mufassirun (Dar al-Kutub al-Hadit), Bd. 2, S. 420.
4. Ebd., S. 477-484.
5. ’Abd ar-Rahman al-Kawakibi, „Tab‘ al-’istibdad (Dar al-Qur’an al-Karim, 1373), S. 42.
6. Mustafa Sadiq ar-Rafi’i, „I’Jaz al-Qur’an wa al-balaga al-Nabawiyya (Dar al-Kitab al-’Arabi) S. 127-129.
7. Shaykh Muhammad Bakhit, „Tanbih al-Uqul al-Insani“ (Maktabat A. Ra-bi’) S. 9-10.
8. Anm. 3, S. 505.
9. ’Abd ar-Razzaq Nawfal, „al-Qur’an wa-l-’ilm al-hadit“, (Dar al-Kitab al-’Arabi), S. 26.
10. Maurice Bucaille, „The Bible, the Qur’an, and Science”, Crescent Publishing Co. (1978), S. 251.
11. Yusuf Muruwwa, al-’ulum al-tabi’iyya fi al-Qur’an“n (Muruwwa al-’ilmiyya), S. 161-165.
12. M. J. Mugniyya, „Al-Tafsir al-kashif“. (Dar al-ilm lil-Malayin), Bd. 4, S. 173.
13. Anm. 3, S. 519.
14. Muhammad Ammara, „al-Islam wa qadaya al-asr“, (Dar al-Wahda), S. 75.
15. Anm. 3, S. 519.
16. A. Tabara, „Ruh ad-din al-‘Islami“, (Dar al-ilm lil Malayin), S. 270.
17. M. H. Tabataba’i, „The Qur’an in Islam“, (Islamic Propagation Organiza-tion), S. 96.
18. M. Golshani, „The Holy Qur’an and the Sciences of Nature“ (Islamic Propagation Organization), S. 171-200.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 1 • Heft 1 • 1. Halbjahr 2002