Kofi Annan
In grundlegenden menschlichen Verhaltensweisen stimmen alle großen Religionen und Traditionen überein
Ich freue mich besonders, heute vor dem Zentrum für Islamische Studien sprechen zu können. Der Islam ist nicht nur eine der großen Weltreligionen. Im Verlauf der Geschichte war er auch die treibende Kraft für mehr als eine große Zivilisation. Es gab die große Ära des Abbasidenkalifats, als Arabisch die wichtigste Gelehrtensprache von Spanien bis Zentralasien war. Später gab es die großen Kulturen des Mogulreiches in Indien, das safawidische Reich des Iran und das Osmanische Reich.
Niemand zweifelt daran, dass es in der Vergangenheit verschiedene menschliche „Zivilisationen“ gab. (Die Betonung liegt auf der Mehrzahl). Diese Zivilisationen stiegen auf und versanken wieder; sie durchliefen Phasen der Blütezeit und des Niedergangs. Einer der ersten großen Schriftsteller, der diese Entwicklung verstand, war der Historiker und Philosoph Ibn Khaldun.
Einige Zivilisationen existierten zur gleichen Zeit, in verschiednen Teilen der Welt. Sie hatten kaum oder gar keinen Kontakt zueinander. Andere jedoch kamen in Kontakt und gerieten oft genug in Konflikt miteinander, wenn sie versuchten, sich gegenseitig zu dominieren oder zu erobern. Letzteres – die Interaktion und der Wettbewerb zwischen den Zivilisationen – kam in den letzten zwei Jahrtausenden häufiger vor. Das vielleicht deutlichste Beispiel hierfür war die Konkurrenz zwischen der christlichen und der islamischen Kultur. Schließlich standen sich diese Kulturen ja ziemlich nahe, gingen sie doch beide aus der alten monotheistischen Überlieferung aus dem Nahen Osten hervor, die von den Muslimen Din al-lbrahim genannt wird, die Religion Abrahams.
In den mittelalterlichen Kreuzzügen kämpften Christen und Muslime miteinander um die Vorherrschaft über Jerusalem, um die Stadt und das Land, die beiden Religionen wie auch den Juden heilig waren. Zu anderen Zeiten wirkte sich ihre Rivalität in vielen anderen Teilen der Welt aus, von Spanien bis Indonesien, von Russland bis zum Afrika südlich der Sahara, von wo ich stamme. Aber ihre Interaktion war nicht immer nur von Konflikten geprägt. Es gab auch „Dialog“, wenn unterschiedliche Kulturen voneinander lernten. Im Mittelalter konnten die Christen viel von den Muslimen lernen: auf dem Gebiet der Medizin, der Naturwissenschaften und der Mathematik. Sogar die Werke der antiken griechischen Philosophen, die im Dunkel des europäischen Mittelalters verloren gegangen waren, wurden durch muslimische Gelehrte bewahrt und ins Arabische übersetzt. Später entwickelte die christliche Welt überlegene Organisationen und Technologien und setzte diese Mittel ein, um alle anderen Zivilisationen dieser Welt zu erobern oder zu dominieren. Der Dialog der Zivilisationen wurde damit praktisch zum Monolog.
Als Ergebnis dieser westlichen Expansion und der daran anschließenden spektakulären Fortschritte im Transport- und Kommunikationswesen stehen die Menschen heute in sehr viel engerer Verbindung zueinander als je zuvor. In mancher Hinsicht – ob uns das gefällt oder nicht – leben wir heute alle in einer einzigen, weltweiten Zivilisation. Trotzdem hören wir in den letzten Jahren immer mehr von „Zivilisationen“ (in der Mehrzahl!). Und dabei ist nicht von der Vergangenheit, sondern von der Gegenwart die Rede. Samuel Huntingtons Prognose vom „Zusammenstoß der Zivilisationen“ hat seit sein Buch 1993 erschien, große Wellen geschlagen. Alle vernünftigen Menschen müssen den Wunsch haben, einen solchen Kampf zu verhindern. Mit Sicherheit hegen die meisten muslimischen Führer diesen Wunsch.
Im September 1998 hat ein weitblickender Führer eines muslimischen Landes, Präsident Muhammad Khatami aus dem Iran, in der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine bemerkenswerte Rede zu diesem Thema gehalten. Er sagte: „Die Islamische Revolution des iranischen Volkes ruft zum Dialog der Zivilisationen und Kulturen auf, nicht zu ihrem Kampf.“ Auf seinen Vorschlag hin hat die Generalversammlung das Jahr 2001 zum Jahr des Dialogs der Zivilisationen ausgerufen.
Welche unterschiedlichen Zivilisationen gibt es also heute in der Welt, und wie kann ihr Dialog aussehen?
Professor Huntington hatte mit seiner Aussage Recht, dass wir uns nach dem Ende des Kalten Krieges in einer Phase befinden, in der es keinen klar definierten globalen Konflikt zwischen Ideologien, wie dem Kommunismus und dem Liberalismus, mehr gibt. Statt dessen gibt es Konflikte zwischen Identitäten, wo es nicht so sehr darum geht, was man glaubt, sondern wer man ist. Aber ist es richtig, dass sich diese Konflikte zwischen unterschiedlichen „Zivilisationen“ abspielen? Ich bin mir nicht so sicher. Manchmal gehören Gruppen, die Konflikte austragen, sehr ähnlichen Zivilisationen an; manchmal sprechen sie sogar dieselbe Sprache, wie die Serben, Kroaten und bosnischen Muslime im ehemaligen Jugoslawien oder die Hutus und Tutsis in Ruanda.
Auf der anderen Seite ist es richtig, dass Außenseiter sich aufgrund von Religion oder Kultur oft mit der einen oder der anderen Seite eines Konflikts identifizieren. Es gibt ein Ausmaß an Zusammengehörigkeitsgefühl unter Muslimen, aber auch unter Juden oder Angelsachsen auf der ganzen Welt, wenn sie sehen, dass Menschen ihrer Gruppe von Menschen aus anderen Gruppen angegriffen werden. Auf diese Weise werden Menschen durch historische Traditionen, Werte und Stereotypen zusammengebracht und andere auseinander getrieben.
„Zivilisationen“ existieren nicht mehr als getrennte Einheiten, wie dies früher einmal der Fall war. Aber auch moderne Gesellschaften sind noch immer von der Geschichte geprägt und identifizieren sich entlang der Bruchlinien der Kulturen. Von all diesen Bruchlinien wird heute jene zwischen der islamischen und der westlichen Gesellschaftsordnung am meisten diskutiert. Objektiv betrachtet verläuft diese Linie vielleicht etwas künstlich – besonders für ein Publikum wie dieses, wo schwer zu sagen ist, wer Muslim und wer westlich ist, und ich bin mir sicher, viele sind beides. Aber aus subjektiver Sicht kann diese Linie sehr real sein. Vielleicht gilt das besonders für die islamischen Völker, deren Sichtweise von sich selbst durch die Geschichte des vergangenen Jahrtausends stark beeinflusst wurde.
Die meisten Muslime sind sich der Tatsache bewusst, dass ihre Religion und ihre Zivilisation einst große Teile Europas, Afrikas und Asiens dominiert hat. Sie wissen, dass dieses Reich nach und nach verloren ging und dass fast jedes muslimische Land unter direkte oder indirekte westliche Kontrolle geriet. Heute ist der Kolonialismus vorüber, aber viele Muslime lehnen sich gegen ihre offensichtliche Ungleichheit gegenüber dem Westen im Bereich der Machtpolitik auf. Viele verspüren ein Gefühl der Niederlage und der Benachteiligung. Ihr Groll wurde durch die ungerechte Behandlung der Palästinenser oder – in jüngster Zeit – durch die an Muslimen im ehemaligen Jugoslawien begangenen Gräueltaten noch verstärkt. Die Muslime wollen heute, dass ihre Kultur und ihre Zivilisation von ihresgleichen und anderen entsprechend geachtet werden, so wie dies in der Vergangenheit der Fall war. Diese Erwartung sollten wir doch sicherlich alle teilen, vorausgesetzt, wir gehen davon aus, dass Achtung heute nicht mehr durch militärische Eroberungszüge erworben wird.
Moderne Gesellschaften sind zu eng miteinander verbunden und moderne Waffen sind zu schrecklich in ihrer Vernichtungskraft, als dass die Interaktion moderner „Zivilisationen“ in Form von bewaffneten Konflikten erfolgen könnte, wie das bei früheren Zivilisationen der Fall war. Heute muss der Dialog ein friedlicher sein. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb ich glaube, dass der Dialog auf der Basis gemeinsamer Werte erfolgen muss.
Selbst der extremste moralische Relativist muss in diesem Sinn zum Universalisten werden. Die Doktrin des „leben und leben lassen“ kann nur funktionieren, wenn alle Kulturen und Gesellschaften sie als Norm akzeptieren. Persönlich glaube ich jedoch nicht, dass „leben und leben lassen“ eine ausreichende Grundnorm für die heutige Weltgesellschaft ist. Und hier vertrete ich vielleicht eine etwas andere Auffassung als Samuel Huntington. Ich halte es für ganz entscheidend, die Vielfalt zu bewahren und zu hegen, wo immer wir können. Aber nicht, wie er vorschlägt, durch die Festlegung von Zivilisationen auf geographisch klar abgegrenzte kulturelle Blöcke. Damit könnte vielleicht der Schein kultureller Vielfalt im globalen Bereich bewahrt werden. Im lokalem Bereich hätte jeder Block aber nur eine deprimierende, geschlossene und monolithische Kultur.
Professor Huntington selbst scheint eine solche Welt zu befürworten, wenn er – am Schluss seines Buches – vor der Gefahr für Amerika warnt, eine multi-zivilisatorische Gesellschaft zu werden, oder – wie er sagt -eine „zerrissene“ Gesellschaft. Ich meine die meisten von uns würden dem nicht zustimmen, denn für uns sind gerade die Offenheit und Vielseitigkeit Amerikas seine besten Qualitäten. Wenn Amerika versuchen würde, sich eine kulturelle Gleichförmigkeit aufzuerlegen, dann würden die USA, so wie andere Großmächte vor ihr, ihren eigenen Niedergang einleiten.
Es entspricht der konventionellen Ansicht, dass Zivilisationen durch innere Konflikte zerstört werden, die ihre Verteidigungskraft schwächen und den Barbaren Tür und Tor öffnen. Das mag richtig sein, doch ich glaube, dass Herrscher und Führer zu oft versucht haben, innere Konflikte auf eine Weise zu lösen, die alles nur noch schlimmer machte. Sie haben abweichende Meinungen unterdrückt, echte Nöte ignoriert, und damit immer mehr Menschen dazu getrieben, zu rebellieren, oder sich sogar mit den gefürchteten „Barbaren“ zu verbünden. Ja schon die Vorstellung, dass Ausländer Barbaren ohne eigene Zivilisation oder eigene Ideen sind, die es Wert wären, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, könnte einer der Umstände sein, die der vermeintlich überlegenen Zivilisation ihre Kraft entziehen und schließlich zu ihrem Fall beitragen.
Die Geschichte der islamischen Zivilisation macht diesen Punkt deutlich. Über hunderte von Jahren stand die islamische Welt an der Spitze des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts und der Errungenschaften der Künste. Gleichzeitig brachten muslimische Gelehrte griechische Philosophien und indische Mathematik zusammen, während muslimische Staatsmänner die persische und byzantinische Institution des Königtums weiter entwickelten.
Ein großer jüdischer Gelehrter wie Maimonides konnte sich im Dienst muslimischer Herrscher voll entwickeln. Später gab das Osmanische Reich Juden und Christen Asyl, die vor den Verfolgungen durch die christlichen Staaten flohen. Und die Ottomanen brachten über mehrere Jahrhunderte lang Regionen wie dem südlichen und östlichen Mittelmeerraum und dem Balkan eine gute Verwaltung, die sie seither zu oft vermissen mussten. Das Osmanische Reich war lange Zeit ein gutes Beispiel für kulturelle und ethnische Vielfalt, von dem wir immer noch viel lernen können. Leider ließ aber dasselbe Reich zu, dass islamisches Denken von konservativen Theologen dominiert wurde, die alle Innovationen – vom Kaffee bis zur Druckerpresse – als Ketzerei ablehnten. Während der Westen durch Aufklärung und Wissenschaft voranschritt, wurde im führenden islamischen Staat der Epoche die Religion zu einem Hindernis für Reformen und Modernisierung, die schon als solche als anti-religiös angesehen wurden.
Ich fürchte, dass einige der jüngsten Versuche, die Größe des Islam wiederherzustellen, zum Scheitern verurteilt sind, da sie, anstatt die Fesseln des Obskurantismus abzustreifen, diese immer stärker anzuziehen versuchen. Dies trifft besonders auf jene Bewegungen zu, die zu Gewalt als Mittel der Durchsetzung ihrer Ziele greifen und dabei die klare Botschaft des Koran vergessen, dass es „keinen Zwang in der Religion“ gibt. Ich fürchte daher, dass diese Entwicklung zu noch größerer Entfremdung führen wird.
Dennoch glaube ich, dass es keinen zwingenden Konflikt zwischen Glaube und Moderne geben muss, im Islam ebenso wenig wie in anderen Religionen. Die Herausforderung der muslimischen Gelehrten, hier in Oxford und anderswo, muss darin liegen, den besten islamischen Traditionen gerecht zu werden, einschließlich der Tradition des „IJtihad“, der freien Interpretation, und dies nicht nur in Theologie und Recht sondern auch in allen Künsten und Wissenschaften. Sie sollten ihre Glaubensbrüder ermutigen, frei darüber nachzudenken, was in anderen Kulturen wie in ihrer eigenen gut und was schlecht ist.
Wir alle, die aus Entwicklungsländern stammen, müssen erkennen, dass die größte Kluft zwischen der entwickelten und der sich entwickelnden Welt die „Wissenskluft“ ist. Diese Kluft kann nur durch weltoffene Forschung und freie, mutige Gedanken überbrückt werden. Den Weg nach vorne finden, heißt – bei aller Bewahrung der Fundamente der Traditionen in unserem Glauben und unseren Sitten – unseren Kopf frei zu machen, um eine Welt zu begreifen und zu verstehen, die sich ständig verändert.
Würde Ibn Khaldun heute leben, bin ich sicher, dass dies seine Botschaft an die muslimischen Völker wäre: Seid Euch der besten Traditionen Eurer Vergangenheit bewusst und nehmt Euren vollen Platz ein in einer Zukunft der Koexistenz und der ständigen Interaktion zwischen unterschiedlichen Traditionen. Zumindest ein Muslim der Gegenwart hat diese Botschaft gepredigt: Iqbal Ahmed, dessen Tod im vergangenen Monat wir alle beklagen. Vor vier Jahren gab er seine glänzende Karriere in den Vereinigten Staaten auf und ging nach Pakistan zurück. Es ist tragisch, dass er keine Zeit mehr fand, um in seinem Land eine Universität von Weltniveau aufzubauen, die nach Ibn Khaldun benannt werden sollte, wie er es sich erträumt hatte. Aber ich bin sicher: Sein Beispiel wird andere dazu inspirieren, sein Werk fortzusetzen.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Unsere Weltethik kann nicht nur eine Frage des „leben und leben lassen“ sein, in dem Sinn, dass jeder Staat all seinen Bürgern seine Wertvorstellungen aufzwingen kann. Noch weniger kann diese Weltethik darin bestehen, ein oder zwei machtvollen „Kernstaaten“ zu erlauben, anderen ihren Willen zu oktroyieren, um ihre Kultur zu teilen. Im Gegenteil: wir müssen die Existenz unterschiedlicher Traditionen innerhalb jeder Region und sogar innerhalb jeder Gesellschaft nicht nur hinnehmen, sondern auch pflegen!
Deshalb freue ich mich, heute nicht nur an irgendeinem Zentrum für Islamische Studien zu sprechen, sondern am Zentrum für Islamische Studien in Großbritannien – einem der führenden westlichen Länder – und hier in Oxford, einer historischen Stätte westlichen Lernens. Es ist gut, dass ein solches Zentrum mit dieser großen Universität in Verbindung steht. Ich hoffe, dass diese Verbindung mit dem weiteren Ausbau von Forschung und Lehre an diesem Zentrum in Zukunft noch enger wird.
Ich freue mich auch ganz besonders darüber, an dieser Stelle in die Fußstapfen des Prince of Wales treten zu können, der genau von diesem Pult aus vor sechs Jahren öffentlich darüber gesprochen hat, was die westliche Zivilisation der islamischen Welt alles verdankt. Viele von Ihnen werden sich daran erinnern, dass Seine Königliche Hoheit nicht nur über die muslimischen Beiträge zur Kultur Europas im Mittelalter und in der Renaissance sprach, sondern auch über die Millionen Muslime, die heute im Westen leben – darunter eine Million oder vielleicht mehr hier in Großbritannien. Er sagte damals: „Diese Menschen stellen einen Wert für Großbritannien dar.“ Natürlich sind sie das. Ich würde sogar noch weiter gehen und sagen, dass die muslimischen Gemeinden einen wesentlichen Teil der heutigen westlichen Gesellschaft bilden. Ihre Präsenz macht den Dialog der Zivilisationen oder zumindest der Traditionen innerhalb des Westens erst möglich. Sie bringen ihre eigenen Traditionen in diesen Dialog ein, und sie befinden sich an einem guten Ort, um sich mit den Traditionen anderer auseinanderzusetzen, von denen einige schon eine längere Geschichte in der westlichen Gesellschaft aufweisen können.
Sie können das übernehmen, was ihnen in diesen Traditionen wertvoll erscheint, und das Übernommene in ihre eigene Lebensanschauung und Lebensart integrieren und an ihre Glaubensbrüder in anderen Ländern, vor allem in jene, mit denen sie enge familiäre Beziehungen verbindet, weitergeben. Ich denke, dass die westlichen muslimischen Gemeinden von künftigen Generationen als eine wichtige Quelle der Erneuerung und der Inspiration des islamischen Denkens angesehen werden.
Deshalb muss der Dialog unter den Zivilisationen auch ein Dialog innerhalb der Gesellschaften sein. Präsident Khatami hat selbst darauf Bezug genommen, als er sagte, dass dieser Dialog für die „Erweiterung des zivilisierten Lebens, sei es auf nationaler oder internationaler Ebene“ notwendig ist. Außerdem muss der Dialog von gegenseitigem Respekt getragen sein. Es geht nicht darum, die Unterschiede zwischen den Menschen zu beseitigen, sondern diese zu bewahren und sie als eine Quelle von Freude und Stärke zu begreifen.
So sieht denn die Weltethik aus, die wir brauchen. Ein Rahmen gemeinsamer Werte, ein Gefühl für unsere Gemeinsamkeiten als Menschen, in dem unterschiedliche Traditionen miteinander bestehen können. Menschen sollen ihre verschiedenen Traditionen leben können, ohne Krieg gegeneinander zu führen. Sie müssen ausreichenden Freiraum besitzen, um ihre Ideen auszutauschen. Und sie müssen in der Lage sein, voneinander zu lernen. Wie der Koran an einer Stelle sagt: „Oh ihr Menschen. Wir haben Euch aus einem einzigen Paar von Mann und Frau erschaffen und Euch zu Völkern und Stämmen gemacht, damit ihr einander erkennen möget“ – „und nicht, damit ihr einander verachtet“, wie ein führender Kommentator hinzufügte. (Sure 49, Vers 13).
Das heißt, dass jede Nation nicht nur die Kultur und Traditionen der anderen achten, sondern auch ihren Bürgern – Männern wie Frauen – die Freiheit zum eigenen Denken einräumen muss. Wie Präsident Khatami vor der Generalversammlung sagte: „Wir sollten erkennen, daß sowohl Männer als auch Frauen wertvolle Bestandteile der Menschheit sind, die gleichermaßen über die Anlagen zu einer intellektuellen, sozialen, kulturellen und politischen Entwicklung verfügen. Eine umfassende und nachhaltige Entwicklung ist nur dann möglich, wenn Männer und Frauen aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen.“
Alle großen Religionen und Traditionen stimmen überein, wenn es um die fundamentalen Grundsätze menschlichen Verhaltens geht, wie Nächstenliebe, Gerechtigkeit, Mitgefühl, gegenseitige Achtung und die Gleichheit der Menschen vor Gott. Daher konnten auch Staaten aus aller Welt mit den unterschiedlichsten religiösen und kulturellen Traditionen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und andere daraus hervorgehende, weiterreichende Abkommen verkünden.
Es mag vielleicht anmaßend klingen, aus diesen Rechten eines besonders herauszugreifen, aber in diesem Zusammenhang kann es kein wichtigeres geben als das Recht auf Gedanken- und Meinungsfreiheit. Freiheiten machen es möglich, dass Menschen einander zuzuhören, ihre jeweiligen Traditionen respektieren und voneinander lernen. Was immer man sonst für eine bestimmte Gesellschaft oder Kultur als spezifisch ansehen mag: Freiheiten sind für uns alle lebensnotwendig, und wir dürfen sie nie aufgeben.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 1 • Heft 2 • 2. Halbjahr 2002