Reijo E. Heinonen
Der Globalisierungsprozess machte zur Vermeidung eines internationalen Chaos’ eine globale Ethik notwendig. Mehr denn jemals zuvor rückt die Weltgemeinschaft heute in kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen Fragen zusammen, und der Gesetzgebungsprozess erscheint zu langsam und zu unbeweglich, um mit all diesen rapiden Entwicklungen zurechtzukommen, was die entscheidende Rolle der Ethik und der Religionen noch deutlicher macht. Aktive Zusammenarbeit zwischen Religionen auf der Grundlage gemeinsamer Werte wird ethische Kodizes stärken und in der Weltgemeinschaft eine kulturell nachhaltige Entwicklung ermöglichen.
Der Globalisierungsprozess als Herausforderung
Viele Gelehrte und Politiker haben gehofft, dass der laufende Globalisierungsprozess allen Menschen mehr Wohlergehen, Demokratie, Menschenrechte und technologische Vorteile bringen werde. Nun scheint es aber, dass die negative Seite dieses Prozesses nur schwer geleugnet werden kann. Die sogenannten Marktkräfte und technologischen Entwicklungen funktionieren ohne ethische Überlegungen. Eine der wichtigsten Lehren dieses Prozesses war das Eingeständnis, dass der Markt in diesem Prozess nicht der Hauptakteur sein kann, da ansonsten die Polarisierung zwischen den Reichen und den Armen sich mit zunehmender Geschwindigkeit fortsetzt.
Ungefähr 20% der Weltbevölkerung besitzen bereits 85% der ökonomischen Ressourcen (Welthandel, Staatsguthaben und Bruttosozialprodukt). Das ungerechte Verhältnis wächst weiter. Das bedeutet, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden. Die internationalen Handelsbestimmungen können die notwendige Veränderung kaum zustande bringen. Kein Gesetz kann menschliches Handeln korrigieren oder lenken, wo ethische Verantwortlichkeit gefordert ist, insbesondere Handlungen, die in Bezug stehen zur persönlichen Anwendung ethischer Prinzipien. Aus diesem Grund bedarf der Globalisierungsprozess einer globalen Ethik.
Der Gesetzgebungsprozess erscheint zu langsam und zu unbeweglich, um die Verhältnisse der Weltgemeinschaft ändern zu können; deshalb brauchen wir ein anderes Merkmal für ein Kontrollsystem, dass das alltägliche Leben von Individuen, Gemeinschaften und Staaten betreffen sollte. Hinter dem Globalisierungsprozess und der Entscheidungsfindung im Welthandel müssen wir eine genauere und flexiblere Ordnung finden – meiner Meinung nach einen ethischen Kodex. Der Globalisierungsprozess bedarf einer globalen Ethik, um in der Lage zu sein, einen Zusammenbruch in ein internationale Chaos zu vermeiden. Hier könnten die Religionen einen wichtigen Beitrag leisten, indem sie ihren gemeinsamen ethischen Kodex formulieren, eine globale Ethik, die Richtlinien geben könnte für den Globalisierungsprozess in seinen verschiedenen Formen.
Einen wichtigen Beitrag leistete bereits das Parlament der Weltreligionen in Chicago (August/September 1993). Ca. 6500 Teilnehmer von allen Religionen der Welt akzeptierten eine gemeinsame „Erklärung zu einer Weltethik“. Diese definiert einen minimalen Konsens im Hinblick auf ethische Prinzipien, die allen Religionen gemeinsam sind. Aus islamischer Sicht muss interessant gewesen sein, dass die Erklärung die Wichtigkeit ethischer Prinzipien im Handel und in der Wirtschaft hervorhebt. Wie dieser Prozess weitergeht, hängt aber sehr stark von der Fähigkeit der Religionen ab, einander zu verstehen und miteinander zu kooperieren.
Vernetzung – eine Parole unserer Tage
Der Globalisierungsprozess offenbart ein weiteres Merkmal unserer Zeit. Mehr als jemals zuvor sind alle Dinge in kulturellen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Fragen miteinander verbunden. Wir haben gesehen, dass der Weltgipfel zu Umweltfragen in Rio 1992 das für einseitige Konzentration auf Wirtschaftsfragen gebrauchte Konzept der nachhaltigen Entwicklung kritisiert hat. Es reicht nicht aus, die Entwicklung mit den Augen von Wirtschaftswissenschaftlern zu sehen. Der Weltbevölkerungsgipfel in Kairo 1994 sah den Zusammenhang zwischen der Bevölkerungsexplosion, Armut und Erziehung. Armut und Ungleichheit wurden als reale und konkrete Gefahren für Frieden und Sicherheit in der Welt erkannt.
Eine weitere Gruppe von Faktoren, die die Weltentwicklung beeinflussen, wurde 1995 in Kopenhagen beim Gipfel der Sozialentwicklung definiert. Aus der Sicht der Religionen war wichtig, dass die Kommission für Kultur und Entwicklung, die von der UNESCO einberufen worden war, die Notwendigkeit, eine globale Ethik zu formulieren, in ihrem Bericht „Unsere kreative Mannigfaltigkeit“ (1995) hervorhob. Sie korrigierte auch den populären Slogan der „nachhaltigen Entwicklung“ indem sie den Beitrag der Kulturen betonte. Nur kulturell nachhaltige Entwicklung kann zu den erwarteten Ergebnissen führen. Auch die Rolle der Religionen wird in dem Bericht hervorgehoben, aber zunächst auf eine negative Weise, durch Benennen der Bedrohung, die religiöse Konflikte und fundamentalistische Bewegungen schaffen.
Jedenfalls hat die Weltgemeinschaft eine Entwicklung durchlaufen, die dazu geführt hat, dass immer mehr Faktoren, die zu der Entwicklung beigetragen haben, hervorgehoben wurden. Auch die Ethik und die Religionen haben an Bedeutung gewonnen. Die Parole von der Vernetzung hat zu der Anerkennung von flexiblen Werten beigetragen, d. h. dass die Religionen beispielsweise gefragt werden, was sie zu der „kulturell nachhaltigen Entwicklung“ beitragen können.
Es ist eine Aufgabe der Ethik und der Forschungen über die Religion und die Geschichte der Religionen, die entscheidungsfindenden Fragen und Situationen zu offenbaren, die sich mit ethischen und religiösen Fragen befassen. Wir wissen z. B., dass Theologen zunehmend häufiger zur Partizipation in Kommissionen aufgefordert werden, die sich mit der Medizin- und Gesundheitsethik befassen.
Von einer historischen Sichtweise her ist es interessant, zu bemerken, wie schwierig es war, sich die Zukunft Europas vor 1990 vorzustellen, und wie groß die Überraschung nach der großen Veränderung nach der Wende war. Wir müssen fragen, welches die nachhaltigen Faktoren waren, die einen Hinweis auf und eine Botschaft für die kommende Entwicklung geben konnten. Eine Antwort könnte sein, dass das ethische Engagement großer Gruppen für Menschenrechte und die positive Rolle der Kirche, insbesondere in Ostdeutschland, die spirituelle Kraft zur Veränderung gab.
Zusammenprall von Zivilisationen
In der Soziologie gab es auch Interpretationen, die die Rolle der Kulturen und Religionen in den kommenden Entwicklungen hervorheben. Ich denke in erster Linie an das Szenario von Samuel Huntingtons „Clash of Civilizations“ von 1996. Er geht davon aus, dass nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa die kulturellen Unterschiede neue Hindernisse zwischen den Nationen schaffen. Politische Grenzen werden durch kulturelle, ethnische und religiöse Unterschiede auf eine neue Art und Weise definiert werden. Statt ideologischer Blöcke wie zu Zeiten des Kalten Krieges wird es kulturell geformte Gemeinschaften geben.
Die Rolle der Religionen ist hier entscheidend, weil sie Werte besitzen, die über Jahrhunderte hinweg bewiesen wurden. Die Weltreligionen bilden das Wertegedächtnis der Menschheit, was als eine Voraussetzung für eine kulturell nachhaltige Entwicklung angesehen werden könnte. Jede Religion hat mit anderen etwas gemeinsam – vor allem die abrahamitischen Religionen – aber sie hat auch eine Originalbotschaft für die Menschheit.
Um ein Anti-Huntington-Szenario aufzubauen, müssen wir die gemeinsamen Symbole und ethischen Prinzipien herausfinden, die Kulturen miteinander verbinden können. Wir brauchen auch eine globale Ethik, d. h. einen ethischen Konsens unter Religionen und eine positive Basis für eine konstruktive Kooperation zwischen Kulturen.
Man könnte nun sagen, dass wir dies bereits haben: töte nicht, lebe nicht unmoralisch, stiehl nicht. Es gibt aber zwei besondere Probleme, die die Anwendung komplizieren. Die Interpretation dieser Normen kann auf sehr verschiedenen abstrakten oder symbolischen Ebenen stattfinden, die die Bereitschaft einer Religion, mit Dialog und Kooperation zu beginnen, beeinflussen. So ist z. B. der Begriff „Nachbar“ sehr wichtig. Wie soll er interpretiert werden? Ist „Nachbar“ örtlich, ethnisch, kulturell oder religiös begrenzt? Oder ist es ein Universalbegriff, der alle Begrenzungen transzendiert und zum folgenden Prinzip führt: alle Menschen müssen human behandelt werden.
Zweitens können viele Zweideutigkeiten in den Funktionen von Religionen von symbolisierenden Ebenen erklärt werden. Die deutsche Orientalistin Annemarie Schimmel hat hervorgehoben, dass die großen Mystiker durch die Jahrhunderte den Begriff „Jihad“ gerade auf der Ebene des „größeren Jihad“ interpretiert haben, der in den Herzen der Gläubigen gegen schlechte Neigungen und Egoismus stattfindet. Wenn wir Jihad auf dieser Ebene interpretieren, können wir dank der analogen Vorstellungen in Christentum, Judentum und Buddhismus auch ein gemeinsames Verständnis finden.
Es ist aber sehr wichtig, zu bemerken, dass wahrer Dialog nicht zu einer synkretistischen Weltreligion führt. Im Gegensatz dazu vertieft er die Identität jeder Religion durch Kommunikation. Auf der Ebene des Dialogs ist es möglich, zu verstehen, was die gemeinsamen und verbindenden Merkmale z. B. der Symbole „Weg“, „Haus“ und „Wasser“ sind. Es ist aber auch wichtig, zu erkennen, was die wahren Interpretationen dieser Symbole in jeder Religion sind. Dialog beginnt mit dem Bewusstsein, dass es möglich ist, in diesem Prozess zu geben und zu nehmen. Die Religionen und Kulturen gehören zusammen, nicht weil sie soviel gemeinsam haben, sondern weil sie einander ergänzen können. Dieses Prinzip der Komplementarität von Religionen und Kulturen könnte eines der effektiven Mittel beim Ausarbeiten eines Anti-Huntington-Szenarios und einer Strategie für eine kulturell nachhaltige Weltentwicklung sein.
Neue Aufgaben für Religionen
All die deutlichen Merkmale unserer heutigen Welt thematisieren auf die eine oder andere Weise Menschenrechte und die Rolle der Religionen. Nun müssen wir fragen, was die Religion tun kann, um einen neuen Dialog zwischen den Kulturen zu schaffen?
Erstens sollte gefragt werden, was die Religionen unter sich selbst tun können. Die Frage ist nach innen auf religiöse und theologische Probleme gerichtet.
Wie zu sehen war, bedeutet die Vernetzung der gegenwärtigen Merkmale, dass die Religionen auf vielerlei Weise in gewalttätige Konflikte involviert sind. Manchmal tragen sie selbst zur Eskalation von Konflikten bei. Manchmal werden sie gebraucht, um die Kontroversen zu verschärfen.
„Kein Weltfrieden ohne Frieden zwischen den Religionen“ lautet eine Aussage von Hans Küng. Die Verwicklung von großen Religionen in politische und kulturelle Konflikte stellen eine Gefahr für die Menschenrechte dar. Dies vermeiden lernen ist ein Beitrag zur Menschenrechtserziehung.
Es ist möglich, das Nähern zu diesem Ziel auf drei Ebenen gegenseitiger Kommunikation zu definieren. Toleranz zwischen Gläubigen und deren religiösen Gemeinschaften ist der Beginn eines gegenseitigen Verständnisses. Die Schwäche liegt darin, dass sie nicht notwendigerweise zu einem besseren Verständnis von einer anderen Kultur oder Religion führt. In einem unsicheren und kritischen Augenblick ist eine tolerante Haltung nicht genug. Wenn deine eigenen Rechte und Vorteile bedroht sind, ist die Toleranz natürlich ziemlich verschwunden. Die friedliche Lösung des Konfliktes erfordert eine tiefere Überzeugung von der gegenseitigen Gleichheit und dem Verständnis von den Motiven anderer. Die zweite Ebene kann ein Dialog sein, bei dem die gemeinsamen Eigenschaften und die spezifischen individuellen Interpretationen harmonisch miteinander verbunden sind; und ein solcher Dialog erlaubt auch die Abschaffung von Vorurteilen. Die dritte Ebene könnte aktive Zusammenarbeit auf der Grundlage gemeinsamer Werte sein, die Toleranz und Dialog einschließen. Auf dieser Ebene können Regierungen eine aktive Rolle bei der Lösung von Konflikten einnehmen.
Der Pionier der finnischen Gesetzgebung im Hinblick auf Menschenrechte, Frans Ludvig Schauman, hob die Verbindung von Religion und Menschenrechten wie folgt hervor: „Keine wahre religiöse Überzeugung kann ohne Freiheit existieren und keine Freiheit in ihrem tieferen Sinne ohne Religion.“
Auf diese Weise ist es möglich, die äußeren Aufgaben der Religionen zu definieren. Sie können darauf hinweisen, wo die Gläubigen und alle Wahrheitssuchenden mehr Rechte brauchen, um in ihrem religiösen Denken, ihrer Überzeugung und inneren Freiheit zu wachsen.
Der Prozess des Dialogs
Der Präsident der Islamischen Republik Iran, Mohammad Khatami, hat vor der 53. Vollversammlung der Vereinten Nationen am 21.09.1998 eine wichtige Rede gehalten. Die Republik Finnland hat seine Vorschläge unterstützt und ist dabei, eine Zusammenarbeit im Bereich der Menschenrechte zu entwickeln.
In den Gedanken von Herrn Khatami sind viele Punkte, die als ein neuer Anfang beim religiösen und kulturellen Dialog angesehen werden können. Erstens hoffte er auf einen Neubeginn der Diskussionen. Zu diesem Beginn gehört die Einsicht, dass die Religion auch ein Produkt der menschlichen kulturellen Entwicklung ist, die „älteste menschliche Institution“. Für die Menschenrechte ist auch die Beachtung des historischen Prozesses wichtig, durch den religiöses Denken entstanden ist. Es gibt die Einsicht, dass niemand vorschlagen kann, die absolute Wahrheit zu besitzen. Es ist wichtig, andere zu hören, die eigene Überzeugung zu beurteilen und zu versuchen, beides zu verstehen. Auch kann dieser Prozess inter-religiösen Lernens nicht nur auf eine kognitive Weise erreicht werden. Er erfordert neue Ansätze beim Kombinieren logischen und einflussreichen Denkens.
Die großen Erneuerer der Geschichte haben oftmals eine beeindruckende und kreative Vorstellungskraft besessen. Wenn wir an die Visionen Konstantins des Großen, Ansgars des Apostels nördlicher Länder, oder auch der großen Mystiker des Mittelalters denken, so erlangten sie ihre leitenden Ideen durch Vorstellungskraft. Aber in diesem Bereich bedarf es der Erziehung. Vorstellungskraft kann gefördert werden. Sie kann ein Teil des Erziehungssystems sein, die uns erlaubt, zu verstehen, wo Menschenrechte entwickelt werden müssen. Vorstellungskraft kann uns auch helfen, Lösungen und praktische Übereinkünfte zu finden, die zum Erkennen dieser Rechte führen. Weiterhin brauchen wir diese Phantasie, um das Wesen des Problems verstehen zu können, wenn wir vor einem Problem stehen, das mit rationalen Mitteln nicht gelöst werden kann.
Der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke schreibt über diesen Prozess oder vielleicht unser gesamtes Dialogvorhaben sinngemäß: Ich bitte dich, so gut ich kann, Geduld zu haben mit allem, was ungelöst in deinem Herzen ist, und versuche die Fragen selbst zu lieben, so als wären es verschlossene Räume oder in einer fremden Sprache geschriebene Bücher. Suche nicht nach den Antworten, die dir jetzt nicht gegeben werden können, denn du bist noch nicht in der Lage, sie zu leben. Lasse die Fragen nun. Dann vielleicht, in der fernen Zukunft, wirst du allmählich, ohne es zu bemerken, deinen Weg zu einer Antwort finden.
Prof: Dr. R. E. Heinonen ist finnischer Theologe, der sich für eine globale ethische Ordnung engagiert
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 2 • Heft 3 • 1. Halbjahr 2003