Dr. M. Razavi Rad
Wir wollen uns in dieser kurzen Abhandlung mit dem Thema “Freiheit aus islamischer Sicht” befassen. Wie bereits bekannt ist, war der Prophet Muhammad besonders in den letzten Jahren vor seiner Auswanderung von Mekka nach Medina sehr darum bemüht, seine göttliche und ehrenvolle Botschaft zu übermitteln. Es bedrückte ihn sehr, dass viele Menschen seiner Botschaft kein Gehör schenken wollten, woraufhin Gott, Der Erhabene, zur Ermutigung Seines Gesandten offenbarte:
وَلَوْ شَاءَ رَبُّكَ لآمَنَ مَنْ في الأَرْضِ كُلُّهُمْ جَمِيعًا. أَفَأَنْتَ تُكْرِهُ النَّاسَ حَتَّى يَكُونُوا مُؤْمِنِينَ.
“Und falls dein Herr wollte, bestimmt hätten alle, die auf Erden sind, geglaubt – sie alle gemeinsam. Doch willst du die Menschen zwingen, damit sie Gläubige werden?” [Sure Yunus (10), Vers 99]
Dieser Vers verbietet jedoch keineswegs, zum Islam aufzurufen und diesen zu verkünden, sondern er verbietet ganz offensichtlich, die Menschen zum Glauben zu zwingen. Darum lud auch der ehrenwerte Prophet die Menschen ohne Zwang und Druck zum Islam ein. Gott, Der Erhabene, spricht:
لاَ إِكْرَاهَ في الدِّينِ، قَدْ تَبَيَّنَ الرُّشْدُ مِنَ الْغَيِّ، فَمَنْ يَكْفُرْ بِالطَّاغُوتِ أَوْ يُؤْمِنْ بِاللهِ فَقَدِ اسْتَمْسَكَ بِالْعُرْوَةِ الْوُثْقَى لاَ انْفِصَامَ لَهَا، وَاللهُ سَمِيعٌ عَلِيمٌ.
“Es gibt keinen Zwang im Glauben. Die Rechtleitung ist gegenüber dem Irrtum klar geworden. Wer also den Glauben an den Tagut (den heidnischen Götzen) ablegt und an Gott glaubt, der ergreift die sicherste Stütze, für die es kein Zerbersten gibt. Und Gott ist hörend und allwissend.” [Sure al-Baqara (2), Vers 256]
Aus diesem Grund ist es unmöglich, jemanden durch rohe Gewalt von der Richtigkeit des Islams zu überzeugen. Und gerade weil der Islam geistige und spirituelle Besonderheiten und Vorzüge besitzt, bietet er den Menschen hierin völlige Entscheidungsfreiheit. Niemand kann in dieser Sache über einen anderen Menschen verfügen oder bestimmen. Im heiligen Koran wird sogar gesagt, dass auch die Menschen, die nicht den Islam angenommen haben oder sich für irgendeinen anderen Glauben entschieden haben, an der alles umfassenden, göttlichen Barmherzigkeit teilhaben, denn Gott, Der Erhabene, spricht:
إِنَّ الَّذِينَ آمَنُوا وَالَّذِينَ هَادُوا والنَّصَارَى وَالصَّابِئِينَ مَنْ آمَنَ بِاللهِ وَالْيَوْمِ الآخِرِ وَعَمِلَ صَالِحًا فَلَهُمْ أَجْرُهُمْ عِنْدَ رَبِّهِمْ وَلاَ خَوْفٌ عَلَيْهِمْ وَلاَ هُمْ يَحْزَنُونَ.
“Jene, die glauben, und jene, die Juden geworden sind, und die Christen und die Sabäer – Wer an Gott und den Jüngsten Tag glaubt und gute Werke verrichtet, denen wird bei ihrem Herrn ihr Lohn zuteil werden, und sie werden weder sich fürchten müssen noch traurig sein.” [Sure al-Baqara (2), Vers 62]
Dieser Vers kommt im heiligen Koran noch einmal vor. Tatsächlich gehört er zu jenen Versen des Korans, welche die Aufmerksamkeit und Verwunderung derer auf sich gelenkt haben, die sich mit dem Islam beschäftigen. Denn dieser Vers verlangt von einem Menschen, der Muslim ist, dass er andere Menschen, die zwar keine Muslime sind aber an Gott und den Jüngsten Tag glauben, respektiert und achtet. Trotzdem gibt es unter denen, die sich mit dem Islam auseinandersetzen, auch Leute, die ihm vorwerfen, nur durch das Schwert verbreitet worden zu sein. Dabei sollten gerade sie es besser wissen aufgrund ihrer besonderen Kenntnis von der Mildherzigkeit der Muslime, die dem Beispiel ihres Propheten folgen.
Aber damit nicht genug: Denn dieselben werfen den Muslimen auch noch vor, fanatisch und engstirnig zu sein, weshalb sich hier die Frage stellt, ob sie denn nicht dazu in der Lage sind, zwischen Freiheit und Gewalt zu unterscheiden, oder ob diese beiden Begriffe für sie das Gleiche sind.
Glücklicherweise gibt es aber auch aufrichtige und faire Forscher, die nach wie vor davon überzeugt sind, dass die Muslime und ihre Religion großzügig und mildherzig sind. Für sie zählen diese Punkte zu den grundsätzlichen und unübersehbaren Merkmalen des Islams, weshalb sie nur noch mehr Respekt und Sympathie für den Islam gewinnen, wenn sie sich die Koran-Verse vor Augen führen, in denen die Muslime zu friedlichem Mit- und Nebeneinander mit Andersgläubigen aufgerufen werden.
Jemand, der behauptet, Gedankenfreiheit stelle ein fundamentales Prinzip und eine grundlegende Besonderheit des Islamischen Glaubens dar, hat bestimmt nicht übertrieben. Der Beweis für diese Behauptung ergibt sich aus Hunderten Versen des heiligen Korans. Dort wird mit unterschiedlichen Formulierungen dem Nachdenken, dem Nachsinnen, dem Überlegen, dem Verstehen und dem Wissen ein hoher Stellenwert beigemessen. Wäre also das Nachdenken über die wahre Beschaffenheit der Welt des Seins oder über die der inneren oder äußeren wesentlichen Welt und alle anderen Realitäten nicht frei und völlig uneingeschränkt, hätte Gott, Der Erhabene, nie die Absicht gefasst, solche Gebote für das Nachdenken zu erlassen.
Gewiss erschuf Gott den Menschen als Statthalter auf Erden und wies ihm eine Rolle bei der Entwicklung und Gestaltung des Lebens auf diesem Planeten zu. Dafür gab Er ihm den Verstand, welcher bei jedem Schritt und jeder Idee Gottes Beweis gegen ihn ist. Er stellte ihn über die gesamte Schöpfung und verlieh ihm einen Vorzug vor vielen Dingen, die Er erschaffen hat. Schließlich sandte Er auf einige Einzelpersonen die Offenbarung herab, damit sie Seine Botschaft allen Menschen überbringen konnten. Er forderte sie hierin zum Nachdenken auf, so dass sie aus ihren Gedanken Schlüsse ziehen können, wobei Er das Nachdenken als den Weg betrachtet, der zur Erkenntnis führt. Er will, dass der Mensch durch dieses Nachdenken für seine Anschauungen, seine Zugehörigkeit und seine Bekenntnisse Verantwortung übernimmt. Deshalb gibt es für den Menschen absolut keine Rechtfertigung für jegliche Formen blinder Nachahmung von Ahnenkulten, absurden Traditionen sowie zufälligen Eigennützigkeiten und egozentrischen Interessen.
Somit ist der Mensch in seiner geistigen Welt völlig befreit, und es gibt keinerlei geistige Einschränkungen oder Grenzen, an denen er stehen bleiben müsste, außer in der verborgenen Welt, in welche er normalerweise keinen Einblick hat. Er beweist die philosophische Möglichkeit oder Notwendigkeit jener Welt zwar durch seine von Gott erhaltene Vernunft und erblickt sie vielleicht durch die Wahrheiten seines aufgeschlossenen und fest gegründeten Glaubens, jedoch kann er sie nicht mittels der Instrumente erfassen, mit denen er sich auch Kenntnis von den wesentlichen Besonderheiten der diesseitigen Welt verschafft. Und das ist es, was der heilige Koran bekräftigt, indem er sagt:
وَقُلِ الْحَقُّ مِنْ رَبِّكُمْ، فَمَنْ شَاءَ فَلْيُؤْمِنْ وَمَنْ شَاءَ فَلْيَكْفُرْ.
“Und sprich: Die Wahrheit ist von eurem Herrn. Wer will, der soll glauben; und wer will, der soll leugnen.”
[Sure al-Kahf (18), Vers 69]
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Rationalität und Religion ISBN: 3-937050-17-5