Dr. M. Razavi Rad
Einleitung
Die Wahl eines Themas, das in verschiedener Weise den Lesern und Gleichgesinnten nützlich sein soll und ihren ideellen Bedürfnissen entspricht, ist für Schriftsteller und jene, die auf kultureller und intellektueller Ebene aktiv sind, stets eine schwierige und äußerst anspruchsvolle Angelegenheit gewesen. Unter Berücksichtigung der ideologischen Rechtleitung der Leserschaft ist es angebracht, den kommenden Themen in Form einer Einleitung einige Zeilen zu widmen und an die Notwendigkeit der Sorge um die religiösen Themen zu erinnern.
Ohne die Bemühungen und Anstrengungen einer großen Anzahl von Kulturexperten und Intellektuellen zu leugnen, müssen wir unter Vermeidung jeglichen “schematischen Denkens” gestehen, dass wir weniger imstande sind, mit den natürlichen und angeborenen Bedürfnissen der Jugend Schritt zu halten und ihren inneren Durst zu stillen, indem wir ihnen Rede und Antwort stehen. Aus eben diesem Grund werden wir in den nächsten Jahren eine riesige Schar von Jugendlichen sehen, die entweder überhaupt keine Fragen haben, deren Beantwortung ihrem theoretischen und praktischen Leben Perspektiven und Ziele geben würde, oder sich in der Gefangenschaft ihrer Unwissenheit befinden, sodass sie nicht in der Lage sein werden, auf ihre eigenen Fragen einzugehen und aus dieser Ausweglosigkeit heraus eine gewisse Empfänglichkeit für Zweifel und Unklarheiten entwickeln. Beides jedoch würde für sie bestimmt nur negative Folgen haben.
Vermutlich ist all dies zurückzuführen auf das Fehlen von Verständnis, richtiger Wahrnehmung und echtem Interesse seitens der jungen Generation. Doch das Problem unserer Jungend ist nicht die “Flucht” vor der Religion oder deren “Bekämpfung”, nur wir sind immer vom Gegenteil dieser Tatsache ausgegangen. Die Generation unserer Jugend und im weitesten Sinne eigentlich alle Jugendlichen, die eine gesegnete Sichtweise auf den Glauben und die religiösen Werte haben, zweifeln im Grunde nicht an der Notwendigkeit der Religion. Der aktiven Generation von heute dürstet es nach einer engagierten und energischen Präsenz von Glaubensprinzipien in den gesellschaftlichen Entwicklungen. Diesen Durst werden sie haben, bis sie einen dauerhaften Einfluss der Religion im Dienst und in der Unterstützung und Förderung der angeborenen und gottgegebenen Fähigkeiten des Menschen verspüren, und bis die Religion all das überschattet, was mit ihr im Zusammenhang steht, und bis sie gesehen haben, dass die Religion mit ihnen eine feste Bindung eingegangen ist und Beistand leistet, wenn es zu materiellen oder immateriellen Engpässen kommt.
Kann eine anerkannte Religion eigentlich behaupten, es sei unangebracht, all dies von einer Religion zu erwarten?
Wir sind fest davon überzeugt, dass kein anerkannter Religionswissenschaftler behauptet, Religion sei nur für die Selbstreinigung und -läuterung, die Regelung des privaten und emotionalen Lebens und die Ausbildung des Verstandes zuständig und habe mit der externen Welt und den Identitäten der Gesellschaft nichts zu tun.
“Weltliche Religion” und “religiöse Welt”
Religion und Scharia (oder besser gesagt: eine Ansammlung von feststehenden und veränderlichen Regeln und Gesetzen, die für die Sicherstellung zweier nicht veränderlicher und veränderlicher menschlicher Aspekte in Form von göttlichen Offenbarungen an die Menschheit gesandt worden sind) dienen der Förderung zweier Entwicklungen (Diesseits und Jenseits), vor denen es für den Menschen kein Entrinnen gibt. Um zu verhindern, dass er sich den religiösen Wahrheiten anpasst und das reine Wissen vom “reinen, Muhammad’schen Islam” erbt, sieht er den “Ort der Taten” (Diesseits) als “Ort der Abrechnung” (Jenseits) oder vermischt einfach das Diesseits mit dem Jenseits. Niemals jedoch und unter keinen Umständen opfert er den Glauben an das Diesseits zugunsten des Glaubens an das Jenseits, als wollte er sagen: “Heute ist Arbeit und keine Abrechnung, und morgen ist Abrechnung und keine Arbeit”. Kann man dann noch an das Heute nicht glauben und an das Jenseits glauben?
Angesichts dieses unrichtigen Glaubens hat grundsätzlich niemand, der an das Heute nicht glaubt, auch nur ein einziges Wort über den “Ort der Taten” zu verlieren. Ein Sprichwort sagt, die Gestaltung des Jenseits sei ohne den Glauben an das Diesseits und dessen Gestaltung nicht mehr als ein Gedicht ohne Reim, das jedem, der es liest, ausdruckslos und ungenießbar vorkommt.
Aufbauend auf der erhabenen Kultur des Islams, die wegen des Glaubens an das Jenseits in der Bearbeitung des irdischen Lebens und ihrer eigenen Trägheiten und Schwächen zurückgeblieben ist, wird eben solch eine Person, die im Schatten der Gestaltung des Diesseits die Erlangung des ewigen Lebens vernachlässigt, gemäß der im Jenseits geltenden Maßstäbe bestraft werden und sich mit einem tierischen Dasein begnügen müssen. Während man bei der ersten, Schutz suchenden Gattung an eine Gruppe von übertrieben religiösen Menschen denkt, erinnert die zweite an eine riesige Horde von Irregeleiteten, die nicht weiter blicken kann als bis zu ihren eigenen Fußspitzen und von einem verbitterten und schädlichen Wunschdenken beeinflusst ist.
Der Ursprung der Ideenflucht
Weshalb eigentlich sind wir in einer Zeit, die für ihre Ideenvielfalt bekannt ist, so weit entfernt von neuen Ideen? Warum sind sogar Gruppen, die für ihr Wissen, ihre Aufgeklärtheit, Forschung und Besonnenheit berühmt sind, in die Gefangenschaft von Trägheit und demütigender Depression geraten? Warum profitiert man auf wissenschaftlicher Ebene, insbesondere auf dem Gebiet der Humanwissenschaften, nicht auch von jenem wertvollen Werkzeug, der Fähigkeit des menschlichen Verstandes, welche den Unterschied zwischen dem Menschen und den anderen Geschöpfen ausmacht und den Mittelpunkt seiner freiwilligen und willkürlichen Taten darstellt? Und warum muss man im Schatten dieser ausgesprochenen Profitlosigkeit von Ideen auch noch zu einer allgemeinen, unersetzliche Verluste umfassenden Kultur übergehen?
Die Bevorzugung eines oder zweier Faktoren aus dieser Vielzahl von Faktoren, die sich aus diesem Phänomen ergeben, ist ziemlich schwierig und erfolgt nach Möglichkeit ohne Objektivität und Präzision. Wir müssen gestehen, ohne damit die Behebung sämtlicher vorhandener Hindernisse beim Nachdenken oder Ideenerwerb eines oder mehrer Individuen zu meinen, dass keine spezielle Gruppierung oder Gemeinschaft für diese Hindernisse verantwortlich gemacht werden kann sondern wir alle an dieser Unzulänglichkeit beteiligt sind. Natürlich ist der Anteil einer Person, die für die kulturellen Angelegenheiten des Landes unmittelbar verantwortlich waren, größer als der der anderen, und falls es eine Überprüfung gäbe, müssten viele von ihnen zur Rechenschaft gezogen werden.
Ist der Kampf des Menschen mit den bitteren und süßen Wogen seiner Existenz zum Stillstand gekommen? Hat die Unfühlbarkeit der Genüsse, welche das Resultat seiner ideellen Forschungen und deren Ergebnislosigkeit ist, den Menschen im Verhältnis dazu unzufrieden gestimmt?
Seien wir aufmerksam auf der schönen Bühne der Ideenbildung angesichts der Unermesslichkeit der uns zur Verfügung stehenden Wahrheiten. Zeigen wir, dass wir dank des vernünftigen Profitierens von diesem wertvollen Hilfsmittel aus der bisherigen Fruchtlosigkeit unserer Ideen einen Nutzen ziehen, mit der Rückbesinnung auf uns selbst und unser Selbstvertrauen den unheilvollen und unfruchtbaren Talisman unserer Ideen im Schatten des wissenschaftlichen und kulturellen Aufschwungs zerschlagen, mit fester Absicht der religiösen Gegenwart und Zukunft, die die Nahrung des irdischen und jenseitigen Lebens sind, entgegensehen und die erhabenen, göttlichen Gebote verwirklichen.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Rationalität und Religion ISBN: 3-937050-17-5