Dr. M. Razavi Rad
Was ist das Leben? Wie sollen wir leben? Woher kommen wir? Wo stehen wir? Auf welches Ziel bewegen wir uns zu? Welche Bedingungen müssen für das ewige Sein erfüllt sein?
Diese und Tausende ähnlicher Fragen hat der Mensch sich zu allen Zeiten gestellt und stellt sie immer noch.
Der Mensch wird keine Ruhe finden, solange er diese Fragen nicht beantwortet hat. Die Geschichte der Menschheit zeigt uns, dass der Mensch den Wunsch, ewig zu sein, immer hatte, ohne ein klares Bild über die Beständigkeit zu besitzen oder die Wege dazu zu kennen und über klare Antworten zu verfügen, weshalb diese Wünsche bestehen.
Dieses Anliegen ist dermaßen stark, dass er überhaupt nichts anderes hören will außer der Symphonie der Ewigkeit.
Mephistopheles sagt:
“Alle Hypothesen sind schwarz, nur der goldene Baum des Lebens ist Grün!”
Der Dichter Rumi sieht die Neigung des Menschen nach Unvergänglichkeit tief in seinem Begehr eingebettet. Er drückt dies folgendermaßen aus:
“Die Substanz des menschlichen Daseins ist so erschaffen, dass sie das Verlangen nach Ewigkeit mit sich trägt und die Wehklage danach in seinem Herzen verbirgt.
Weil sie aus der Ewigkeit kommt und sich dorthin fortbewegt, vom Unvergänglichen stammt und ebenso zum Unvergänglichem heimkehrt.
Vom ewigen Leben zum ewigen Leben.”
Die Rolle der Menschen im “Drehbuch des irdischen Lebens der Menschen” ist das Entdecken des Geheimnisses des ewigen Seins. Diese Expedition endet dort, wo er merkt, dass ewig zu sein nichts anderes ist als die vergängliche Welt zu verlassen. Und sein vergänglicher Körper ist weder von fortdauernder Natur, noch hat er die nötige Ausdauer dafür. Aber die Seele und der Geist verfügen über eine fortdauernde Natur und über die notwendige Beständigkeit. Hierzu sagt Rumi:
“Der Kern des Geistes steht über allen Talenten. Seine Gewohnheit ist nicht das, was man sieht, sondern sie ist göttlich.”
Um den Menschen aus der Verzweifelung heraus zu helfen und ihm ein klares Bild von seiner Würde und seinem Rang im Universum zu vermitteln, sagt Imam Ali Folgendes:
“O Mensch, denkst du, dass du nur ein untergeordneter Körper seiest, obwohl du eine große und geheimnisvolle Welt in dir birgst?”
Der Körper ist ein Symbol für die kleine Welt, und der Geist und die Seele sind die wahren Symbole für die große Welt.
Nun es ist der Mensch, der zwischen diesen beiden Welten wählen kann. Er kann sich die kleine Welt suchen, die die Eigenschaft hat, den Menschen je nach Grad seiner Verstrickung in ihre Probleme kleinlich, ausgeliefert, schwach und vergänglich zu machen. Andererseits, je mehr der Mensch sich der großen Welt nährt, desto beherrschter, größer, angesehener und unvergänglicher wird er.
Der Mensch ist aufgrund des Charakters seines wahren Daseins und des göttlichen Ursprungs seiner Seele in seinem Herzen ständig auf der Suche nach Gottes Nähe und verspürt ein bewusstes oder unbewusstes Verlangen nach Ihm.
Dieses Verlangen nach Gott rührt daher, dass Gott vollkommen ist. Nach Erhebungen der gegenwärtigen Philosophen und zum Teil auch der Mystiker ist diese Suche nicht nur das Schicksal der Menschen, sondern auch alle anderen Wesen haben dieses Schicksal, weil sie Mangel und Unvollkommenheit in ihrem Wesen verspüren; und das ist die treibende Kraft, um sich auf den Weg der Vervollkommnung zu begeben.
Der Unterschied zwischen dem Menschen und anderen Wesen liegt darin, dass der Mensch den Weg zur Vervollkommnung bewusst und mit gutem Wissen und Gewissen einschlägt, und wenn die äußerlichen Bedingungen zum korrekten Erkennen der Bedürfnisse und Mängel disponibel wären, würde diese rituelle Reise eine Wanderung der Liebe werden.
Und nun erst kommt die Frage auf: Was ist die Liebe? Was sind ihre Spielregeln?
Die Liebe ist als Geheimnis der Ewigkeit bekannt, sie ist nicht mit Worten zu beschreiben oder in Büchern zu lesen sondern muss selbst erlebt werden. Hier bewegt sich die Pracht des wahren Daseins des Menschen in der Richtung seines Ursprungs.
Die Liebe ist wie eine berauschende Symphonie, die die innersten Wünsche und die Herzensschätze des Menschen enthüllt. Sie ist keine sachlich abgewogene Handlung.
Sie verbirgt das Unheil und den Heiltrank in sich, und das Leben ist auch nicht anders! Mal wachsam, mal berauscht, mal laut, mal lautlos, mal unendlich begeistert, mal zutiefst bekümmert, und all dies ist die Tonleiter der Symphonie der Liebe, die sich im Leben akzentuiert.
Der Dichter Rumi sagt:
“In der Tiefe und Höhe des Flötenklanges bergen sich Geheimnisse. Erzähle ich dir das Geheimnis, vermenge ich das Universum. Wer kennt besseres Gift und Gegengift als die Flöte? Wer kennt besseren regsamen Begleiter als die Flöte?”
Es ist nicht zuviel gesagt, dass dies die treibende Kraft ist, die den Menschen durch die anstrengenden alltäglichen Lebenssituationen, begleitet. Die Menschen, die ihr Leben mit absoluter Rationalität gestalten, werden fragen: Was ist mit unserem Verstand geschehen, dass wir nun zur Liebe Zuflucht suchen?
Diejenigen, die die wahre Liebe erfahren haben (also nicht diejenigen, die sie nur in Worten erfahren haben und deren Herz davon nicht betroffen ist), werden bestätigen, dass zwischen Liebe und Ratio kein Widerspruch besteht. Wenn die Ratio (der Verstand) die innerste der Wahrheiten erkennt, wird sie sich in ihrer herrlichen Herzenswärme in Liebe umwandeln.
Viele Dichter haben von der Vernunft, die immer nur ihre Vorteile sucht, gedichtet. Hierzu sagt Rumi, der große Mystiker und wahre Liebende:
“Wann geht die Vernunft durch die Gassen der Hoffnungslosigkeit?
Es ist die Liebe, die sich dorthin mit dem Kopf begibt.
Der Wanderer ist die Liebe, nicht die Vernunft.
Sie prüft ihren Gott nicht!
Sie klopft auch nicht an die Tür, wo ihre Gunst oder Ungunst ruht.”
Das Gewand der Liebe wird dann die Vernunft bekleiden, wo es sich in ihre Verliebtheit begibt, und erst dann wird es in dem Glanz der Symphonie der Liebe, dem Leben eine himmlische, göttliche Gestalt geben.
Was hier erzählt wurde, ist die Geschichte der Liebe in der Welt der Worte. Die Liebe soll erfahren werden, damit man sie versteht. Rumi sagt:
“Wie auch immer ich über die Liebe erzähle, und darzulegen versuche – sobald ich zur Liebe selbst zurückkehre, bin ich verlegen vor meiner kargen Aufführung. Obwohl die Darlegung durch die Sprache klärend ist, ist die sprachlose Liebe fruchtbarer.”
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Rationalität und Religion ISBN: 3-937050-17-5