von Mohammad Razavi Rad
Die Frage nach Glück und Unglück sowie nach der Art und Weise, wie Glück zu erreichen und Unglück zu überwinden ist, besitzt eine anthropologische Verankerung und gehört zu den zentralen Bestandteilen der Geistesgeschichte. Schon der griechische Philosoph Epikur (341‐270 v.u.Z.) hat ein bleibendes Werk hinterlassen, in dem er viele Dimensionen des Glücks aufzählt.1 Während Epikur der Ansicht ist, dass das Gefühl von Lust bzw. Unlust unvermeidbar ist und die Sinnlichkeit wesentlich unser Leben bestimmt, so bedeutet Glück bei der Stoa, dass sich alle Wertungen mittels der Vernunft ausschalten ließen. Charakteristisch für beide ist der Gebrauch der Vernunft.
Auch der Philosoph und Mystiker Abu Hamed Ghazali (1058‐ 1111) erhebt diese Fragestellung zu einer zentralen Dimension seines Schaffens. In seinem Werk ›Elixier der Glückseligkeit‹ thematisiert er das Glück und die Pflicht, wahres Glück zu suchen und dieses mit anderen Menschen zu teilen.2 In der Bereitschaft zu einer solchen Unterteilung sieht er auch die Würde des Menschen, die er für großartig und schützenswert hält.
In den gegenwärtigen Debatten der modernen und traditionellen Gesellschaften ist ebenfalls die Frage nach Glück und Unglück virulent. Dies bedeutet, dass die Frage, wie wir den Zustand innerer Seelenruhe erlangen können, keine spezifisch religiöse Dimension besitzt. Sie ist allerdings ein anthropologisches Urbedürfnis, das
sich religiös begründen lässt.
Die Wissenschaften haben uns zahlreiche Errungenschaften beschert, die wir gerne nutzen und die uns zu dem geführt haben, was wir als ›Lebensstandard‹ bezeichnen. Insofern ist es unbestreitbar, dass Wissen den Menschen vorantreibt. Für den gläubigen Menschen stellt sich nun die Frage, ob das Leben auch auf der
Grundlage von Unwissenheit eine Bereicherung erfahren kann, die uns zur Glückseligkeit führt. Hierzu ist es notwendig, einzelne Arten von menschlichem Wissen und von Fähigkeiten zu unterscheiden und eine derart erstellte Typologie vergleichend zu betrachten.
Arten des Wissens
Ich unterscheide zwischen ›angeborenem‹ und ›erworbenem‹ Wissen. Das angeborene Wissen ist ein Erkenntnisinhalt unserer Seele. Der Mensch entdeckt das angeborene Wissen in sich durch stetiges Bemühen und die Läuterung seiner selbst. Grundlegend für diese Auffassung ist, dass die Gesetze der Welt von der göttlichen Ordnung beherrscht werden. Diese göttliche Hilfe und rechte Leitung erwirbt der Mensch zuallererst aus dem Heiligen Koran und anderen Heiligen Schriften und durch die Anweisungen eines Lehrmeisters.
Der Glaube kann aber nicht allein beruhen auf der Akzeptanz und der Befolgung von Regeln aus den Heiligen Schriften, die andere Menschen für uns aufgestellt haben. Sie muss aus den Quellen der Liebe, aus dem Herzen gewonnen sein. Die Reflexion jedes einzelnen Menschen über das Wort Gottes ist eine zusätzliche Aufgabe, nur diese führt zu wahrem Wissen, das von Unreinheit geläutert und dem Menschen nützlich ist. Diese Maxime ist Gegenstand eines Hadits des Propheten Mohammad, in dem der Prophet den Verstand als eine ›große Gnade Gottes‹ bezeichnet, den wir gebrauchen müssen, um dem Allmächtigen Recht zu tun. Gott aus freien Stücken zu dienen, heißt, sich selbst mit Glück zu beschenken.
Hierdurch wird dem Menschen Glückseligkeit und Erlösung garantiert. Es gibt eine Reihe von Äußerungen des Propheten über das wahre Glück. Weil Gott den Menschen mit freiem Willen ausgestattet hat, wird jeder Mensch seinen eigenen Weg alleine finden müssen. Natürlich kommt dabei der Familie eine grundlegende Rolle zu. Die Aufgabe der Eltern ist jedoch immer eine schmale Gratwanderung, welche die Kinder zwischen liebevoller Unterstützung und persönlicher Entscheidungsfreiheit leitet. Den Kindern muss die Möglichkeit zu einer eigenen Entwicklung, zur Reflexion und zur Erlangung eigener Einsichten bleiben. Die bloße Übernahme von Wissen oder Einsichten kann nicht den rechten Weg zur Glückseligkeit weisen.
Im Kontrast zu dem wahren, angeborenen Wissen steht das bloße erworbene Wissen. Der Erwerb rationaler Bildung erfolgt häufig auf erstaunlich hohem Niveau, insbesondere im akademischen Bereich. Solcherlei Wissen, sei es auch noch so ausgereift, ist jedoch zweifelhaft, wenn der Bezug zur göttlichen Ordnung der Welt und die Läuterung durch Erkenntnisse des Glaubens fehlen. Es fehlt nicht an Versuchen, auch die bloße Präsenz von rationaler Bildung aus den Heiligen Schriften zu rechtfertigen, aber da ihnen die rechte Grundlage fehlt, können sie nicht die Stufe des wahren, angeborenen Wissens erreichen.
Ein Sprichwort aus dem Heiligen Koran, nach dem man auf seine Ernährung achten müsse, lässt sich analog auf das erworbene Wissen anwenden. Auch hier müssen wir auf die tatsächlichen Bedürfnisse des Menschen eingehen und uns dementsprechend verhalten. 3
Die Ausführungen zu den Arten von angeborenem und erworbenem Wissen führen uns bereits vor Augen, dass es nicht auf ein ›Wissen an sich‹ ankommt, sondern dass die rechte Qualität des Wissens bedeutsamer ist als die eigentlichen Kenntnisse.
Das Wissen großer Philosophen wie Ibn Sina oder Mohammad Ibn Ibrahim Sadreddin Shirazi, genannt Molla Sadra (1571‐1640) haben uns viele Dinge in der rechten Weise zu sehen gelehrt. Die Fülle der Welt ist allerdings unermesslich, deshalb wird jede Anstrengung, dies in einem Menschenleben zu fassen, vergeblich sein. Immer wird sie wesentlich größer sein als unser Wissen. Sicher hat jeder schon einmal die Erfahrung gemacht, dass unser Unwissen umso größer erscheint, je mehr Wissen wir uns angeeignet haben. Abu Ali al Hossein ibn Abbdollah ibn Sina (980‐1037), auch ›Avicenna‹ genannt, bemerkt in diesem Sinne am Ende seines an Studien überreichen Lebens, letzten Endes wisse er ›nichts‹. Die Einsicht, dass es dem Menschen niemals möglich sein wird, ein umfassendes Wissen zu erwerben, soll uns allerdings nicht davon abhalten, ein Leben lang nach Wissen zu streben und unsere Unwissenheit in bereicherndes, uns nützliches Wissen umzuwandeln. Er sollte sich aber dessen gewiss sein, dass sein Wissen in der Regel unvollständig ist, und er auch auf diesem Gebiet häufig in Unwissenheit aller relevanter Faktoren seine Entscheidungen trifft. Dies erklärt, warum auch Entscheidungen, die wir aufgrund besten Wissens treffen, häufig zu Misserfolgen führen.
Dimensionen des Nichtwissens
In unserer modernen Welt wird Wissen in der Regel als das angesehen, was den Menschen oder auch insgesamt die Menschheit weiterbringt. Dass auch das Nichtwissen ein Vermögen darstellen kann, wird entweder übersehen oder marginalisiert.
Meine These ist, dass es gerade das Nichtwissen und der Umgang hiermit ist, welches den Menschen auf seinem rechten Wege voranbringen kann. Ein eingängiges Beispiel ist der Glaube an das Jenseits, der das Leben des Menschen komplett beeinflussen und verändern kann. Die Existenz des Jenseits ist auf rationalem Wege nicht beweisbar, jedoch lässt sich eine Art ›aktiver Existenz‹ daraus schließen, dass der Glaube an einer solchen Existenz das menschliche Leben verändern kann. Ein weiterer Gedanke an die Existenz ist, dass wir bisweilen an unserer Nichtwissenheit leiden. Das Nichtwissen ist im menschlichen leben also der Ursprung zahlreicher Wirkungen.
Unwissenheit in diesem Sinne ist nicht der Gegenpol des Wissens, sondern ein Teil der Erkenntnis. Als Gegenpol von Unwissenheit und Unkenntnis ist die Vernunft zu betrachten; das Unwissen ist der Gegenpol der Vernunft.
Wie das Wissen lässt sich das Nichtwissen in eine reine bzw. angeborene und eine unreine Unwissenheit aufteilen:
1. Die reine Unwissenheit ist uns mit der Geburt mitgegeben. Sie begleitet uns in jeder Phase unseres Lebens. Im Koran lesen wir: »Und Gott hat euch aus dem Leib eurer Mütter hervorgebracht, während ihr nichts wusstet.«4 Die reine Unwissenheit ist ein Vermögen, da sie als Grundlage für den Erwerb von Wissen notwendig ist, wie die geistige Entwicklung rechtgeleiteter Kinder erweist.
Nun stellt sich die Frage, wie der Mensch im Laufe seines Lebens mit der Unwissenheit gewinnbringend umgeht. Von besonderer Bedeutung ist die Maxime, Wege, von denen der Mensch kein Wissen hat, nicht zu beschreiten. Im Heiligen Koran lesen wir entsprechend: »Und verfolge nicht das, wovon du kein Wissen hast.«5 In einem Hadit wird überliefert: »Gott begrü.t diejenigen, die ihre Stellung kennen und sie nicht überschreiten.« Handlungen auf Gebieten, von denen der Mensch kein Wissen hat, lassen uns straucheln. Ebenso gefährlich ist es, das eigene Leben mit dem Leben anderer Menschen, die es, dem äußerlichen Anschein nach weiter gebracht haben als man selbst, zu vergleichen. Viele Menschen lassen sich aus diesem Grunde zu unüberlegten Handlungen hinreißen, wo ein Ruhen in sich selbst wesentlich weiter führen würde.
2. Die unreine Unwissenheit veranlasst den Menschen, sein Handeln abgewandt von den Regeln der Heiligen Schriften auszurichten. Warnend wird im Koran hierauf verwiesen: »… sie sagten ja mit ihrem Munde, was nicht in ihrem Herzen war …«, oder »Warum sagt ihr das, was ihr selbst nicht tut/woran ihr selbst nicht glaubt.«6
Das Wort qawl, das in diesem Zusammenhang mit ›sagen‹ und ›glauben‹ übersetzt werden kann, führt zu unterschiedlichen Auslegungen wie: ›Warum habt ihr euch daran gewöhnt, was ihr daran glaubt, ihr tut es nicht.‹. Vielfach ist das Unterlassen einer Handlung wesentlich schwieriger als deren Ausführung. Bereits Adam im Paradies unterlag der Versuchung und konnte sich nicht davon zurückhalten, vom Baum der Erkenntnis zu essen.
Sowohl die reine wie auch die unreine Unwissenheit kann in einem rechtgeleiteten Leben in bereicherndes Wissen umgewandelt werden. Hier stellt sich die Frage, warum nicht alle Menschen diese Möglichkeit nutzen, lassen sie doch dadurch ihr wertvollstes Vermögen außer Acht. Dies hat zunächst mit drei Faktoren zu tun, die dieser Verwirklichung im Wege stehen: dies ist zum einen eine fehlende Selbsterkenntnis, zum anderen fehlendes Selbstvertrauen und schließlich fehlendes oder nicht kultiviertes Selbstbewusstsein.
Eine schwache Seele ohne Selbsterkenntnis, die nicht nach dem göttlichen Leben ausgerichtet ist, ruft Misserfolge im Leben hervor. Der Mensch tut gut daran, die Gabe einer Art von Bescheidenheit zu entwickeln, welche die eigenen Grenzen erkennt und das Leben nach diesen ausrichtet. In diesem Sinne bewahrt die Vermeidung von Handlungen, die auf Unwissenheit beruhen, den Menschen vor der Verausgabung und Übertreibung und führen ihn auf dem Wege der rechten Einschätzung der eigenen Lebensmöglichkeiten zur Glückseligkeit.
Die Arten des menschlichen Ego
Die vorangestellten Ausführungen zum Wissen lassen sich auf das menschliche Ego übertragen. Dieses offenbart sich auf unterschiedlichen Ebenen, und lässt sich unterscheiden in ein verborgenes und ein offenbares Ego.
Glück und Unglück des Menschen vollziehen sich in einer Oszillation zwischen dem verborgenen und offenbaren Ego. Überwiegt das verborgene Ego, so hat der Mensch Tiefe, kann sein Wissen und seine Fähigkeiten realistisch einschätzen und wähnt sich glücklich. Überwiegt das offenbare Ego, so ist dies problematisch. Das offenbare Ego ist den weltlichen Dingen zugetan, mit denen der Mensch sich fühlt, als ob er glücklich sei, aber tatsächlich ist er nicht glückselig. Es gilt, sich dem verborgenen Ego zuzuwenden und dadurch die Glückseligkeit zu fördern.
Ich fasse meine Überlegungen zusammen:
- Nicht das faktische Wissen spielt im Leben eine positive Rolle, sondern die Unwissenheit ist häufig bedeutender für die Glückseligkeit und ein erfülltes Leben.
- Die Unwissenheit zählt zum Haben und Vermögen des Menschen, insbesondere wenn es sich um die reine und einfache Unwissenheit handelt.
- Das faktische Wissen befiehlt dem Menschen, dies oder jenes zu tun oder zu unterlassen; auf diesem oder jenem Weg zu gehen, während die Unwissenheit häufig gebietet, Taten zu vermeiden oder sie zu unterlassen. Auf unbekannten Wegen soll der Mensch nicht wandeln, da er sich häufig überschätzt.
- Der Mensch, der sich auf praktisches Wissen verlässt, vernachlässigt die Tatsache, dass dies zum größten Teil un vollständig ist. Dies erklärt die hohe Anzahl von Misserfolgen.
- Das Glück des Menschen vollzieht sich in seinem stetigen Handeln, das Gute, Wahre und Schöne zu erreichen.
Die erste Stufe des wahren Menschseins wird mit dem eigenen Ego begonnen, an dem der Mensch arbeiten muss. Der innerliche und spirituelle Weg darf nicht dem körperlichen und materiellen weichen, denn nur dieser ist ein wichtiger Faktor für unsere Misserfolge oder Rückst.nde. Das Schicksal der Gesellschaften, deren Fähigkeiten und Vermögen nicht erkannt sind, ist mit Mangel und Misserfolg verbunden. Unglück birgt Einsamkeit, die durch Wissen und rechte Anwendung des menschlichen Vermögens zu Fortschritt, Erfolg und Entwicklung führen.
Menschliche Entwicklung und wahre sowie innerliche Religiosität können nur durch die Beachtung dieser Maximen zum Erfolg führen. Es bleibt ein wichtiges Ziel, durch eigene Aktivität unsere Einsichten zu gewinnen und neue Ideen für die Gesellschaft fruchtbar zu machen.
1 Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Hamburg 1967.
2 Ghazali, Abu Hamed: Das Elixier der Glückseligkeit, Köln 1979.
3 Sure 80:24.
4 Sure 16:78.
5 Sure 17:37.
6 Sure 61:2 oder 3:167.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 11 • Heft 20 und 21. Halbjahr 2012