von Mohammad Razavi Rad
Vergleicht man den Menschen mit anderen Lebewesen, so ist das Wesen des Menschen voller Widersprüche. Er vermag schöner, abstinenter und beeindruckender sein als die Engel, so dass selbst diese sich wünschten, Menschen zu sein. In seiner Selbstbestimmtheit und Freiheit kann er sich aber auch von seinem edlen Menschsein entfernen und vom höchsten zum niedersten Wesen entwickeln.
Das Bild, das wir uns vom Menschen, von der Schöpfung und vom Leben formen, sagt viel darüber aus, wie wir selbst sind. Viele Unterschiede zwischen den Menschen liegen in ihren Menschenbildern, die unsere Innen‐ und Außenperspektiven formen. Stets gilt es zu fragen: Was ist der Mensch, was sind seine Bedürfnisse und welche Wege gibt es, diese Bedürfnisse zu erfüllen? Erst über die Perspektive meiner Innen‐ und Außenperspektive werde ich zu meiner Selbst, ein anderer zu seiner Selbst bzw. jeder zu sich selbst. Wir sollten uns bewusst sein, dass unser Lebensstil nicht anderes ist als unsere Wahrnehmung und unser Bild vom Leben. Unser Weltbild ist ausschlaggebend für unser Selbstbild.
Dem Koran zufolge ist der Mensch das Ebenbild Gottes. In dieser Funktion als Gottes Ebenbild oder Gottes Kalif, verkörpert der Mensch das Gute, das Erhabene und das Schöne. Diese Attribute sind nicht auf einige wenige Menschen beschränkt. Jeder ist in der Lage, diese Stufe zu erreichen, jedoch muss er all sein Vermögen einbringen, um auf dem Pfad dieser Tugenden voranzuschreiten. Das Bestreben, die eigene Persönlichkeit zu einer göttlichen Stufe reifen zu lassen, ist letztendlich mit dem Ziel verknüpft, Gelassenheit und Frieden zum Wohle der gesamten Menschheit zu bringen.
Die Quelle eines solchen Friedens ist in Gott zu finden und in dem, was das Göttliche verkörpert. Im Koran wird darauf verwiesen, dass es der Glaube an Gott ist, der dem Menschen Gelassenheit schenkt. Je mehr wir uns dieser göttlichen Quelle nähern, umso erfolgreicher kommen wir auch der ersehnten Gelassenheit näher. Unruhe, Krieg und Blutvergießen oder andere destruktive Handlungen rühren daher, dass wir uns von dieser Quelle entfernt haben. Diese Entfremdung vom Göttlichen ist die Ursache der gegenwärtig herrschenden Maßlosigkeiten rund um den Globus.
Ewige und wandelbare Dimensionen des Glaubens
Der Mensch hat zwei Arten von Bedürfnissen, die ihn seit seiner Schöpfung begleiten. Dies sind zum einen ewige Bedürfnisse und zum anderen wandelbare Bedürfnisse. Ewige Bedürfnisse sind das Streben nach Vollkommenheit, Gelassenheit und letztlich Glückseligkeit. Diese sind bei allen Menschen gleich und in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft konstant. Wandelbare Bedürfnisse hingegen sind nicht nur von Mensch zu Mensch unterschiedlich, sondern sie können jederzeit geändert werden und sich praktisch in einer neuen Form offenbaren. Sie umfassen Moden der Zeit oder von der jeweiligen Kultur abhängige Regelungen.
Die Verschiedenheit der beiden Arten von Bedürfnissen legt nah, dass jeweilige Regelungen in unterschiedlichen Kontexten festgelegt sein müssen. Nehmen wir den Islam als Beispiel, so finden sich die ewig gültigen Grundlagen und Bedürfnisse des muslimischen Glaubens im Koran. Grundsätze zu den wandelbaren Bedürfnissen hingegen können nicht in den Heiligen Schriften geregelt sein, da ihre Anpassungsfähigkeit gewährleistet sein muss. Solcherlei Gebote und Verbote finden sich in der Scharia, die unter Berücksichtigung von Kontext und Situation veränderbar ist, wenn auch ebenfalls auf der Grundlage klarer, definierter Maßstäbe. Betrachten wir Judentum, Christentum und Islam, so begegnet uns dieselbe Struktur: Aussagen zu den ewigen menschlichen Bedürfnissen finden sich in den jeweiligen Heiligen Schriften, während Gebote und Verbote als Beschlüsse von Konzilien oder ähnlichen Gremien in wandelbaren Regelwerken zu finden sind.
Befinden sich die ewigen menschlichen Bedürfnisse mit den wandelbaren im Gleichgewicht, so garantieren sie Harmonie und Gelassenheit. Geraten sie aber aus dem Gleichgewicht, so hat dies weitreichende Konsequenzen für die menschliche Lebensführung überhaupt.
Störungen auf dem Weg zu Gelassenheit und Frieden
Leider ist es eine weit verbreitete Gewohnheit, die beiden Kategorien der ewigen Glaubensgrundsätze und der wandelbaren Regelungen vermischt zu denken und die eine Kategorie gegen die andere auszuspielen. Dies ist z.B. der Fall, wenn ein Mensch das gesamte Christentum deshalb in Frage stellt, weil er sich mit einer später entstandenen, wandelbaren Regelung wie dem Zölibat für Priester, nicht anfreunden kann. Das Resultat besteht zumeist darin, den gesamten Glauben unnötig in Abrede zu stellen. Dies bedeutet allerdings, das Kind mit dem Bade auszuschütten, denn ohne den Glauben an eine höhere Instanz des Guten ist dem Menschen der Weg zur Gelassenheit nahezu immer verschlossen.
Mir geht es nicht darum festzulegen, welches Menschenbild bzw. Ich-Wesen das richtige oder das falsche sei. Es erscheint allerdings, dass unsere Welt-Mensch-Leben-Definition grundlegenden Irrtümern unterliegt, die uns daran hindern, ein besseres Leben zu gestalten. Die immer schneller handelnde, unruhige gegenwärtige Welt, ihre ruhelosen Menschen mit instabilen Lebensbeziehungen sind ein Indiz für diese Annahme.
Die unglaublich schnell fortschreitende Technisierung unserer Umwelt und Lebensweise und die erheblichen Unterschiede gesellschaftlicher Schichten, die Zunahme von Armut, das Auseinanderdriften von Familien, die zunehmende Einsamkeit von Menschen, die Zunahme von Streitigkeiten und diverse andere Probleme sind Indizien einer Zukunft, die sich immer schwieriger gestaltet.
Warum ist der Mensch, trotz seiner unermesslichen Fortschritte und großartigen Errungenschaften auf allen Gebieten unruhiger und unzufriedener geworden? Sicher ist Gelassenheit eine verlorene Tugend des Menschen, welche diese Unruhe hervorruft. Dieser Verlust ist auch die Quelle von Depression und moralisch unangemessenen Verhaltensweisen. Viele Menschen sehnen sich nach Ruhe, im gleichen Augenblick trauern sie aber ihren unerfüllten Bedürfnissen nach und suchen krampfhaft nach einer Erfüllung dieser Bedürfnisse. Diese Missstände sind nicht allein Probleme der Dritten Welt oder gar der Armen, Kranken und Flüchtlingen, sondern sie sind überall zu beobachten.
Ohne eine wissenschaftlich detailreiche Analyse des Sachverhaltes möchte ich unmittelbar darauf hinweisen, dass Maßlosigkeit ein Hindernis der Gelassenheit geworden ist, die der Mensch braucht, um Frieden zu erlangen. Wir sind gefangen im Wirbel unserer selbstverschuldeten Ruhelosigkeit. Dies beobachten wir vor allem in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft sowie in Kunst und Sport. Nun stellt sich aber die Frage, warum unsere Welt überwiegend von solcherlei Maßlosigkeiten beherrscht wird, wo die Wurzeln des Übels liegen, oder, wie die Philosophen sagen, wo die Ursache zu suchen sei.
Die Eingriffe des Menschen in die Natur haben uns so weit gebracht, dass es heute in bestimmten Gegenden kaum mehr brauchbares Trinkwasser, saubere Luft oder gesunde Nahrungsmittel gibt. Wir treten unsere Zukunft mit Füßen, wenn die Ärmsten und Mittellosesten in den unterschiedlichen Winkeln unserer Welt nicht über das Lebensnotwendige verfügen, während sie massenweise Waffen in der Hand haben, um sich gegenseitig zu bekämpfen. Eine kleine Gruppe von Menschen, welche die gesamte pharmazeutische Industrie in der Hand hat oder beim Rauschgifthandel nur an ihren Gewinn denkt, setzt das Leben der Menschen, insbesondere der Heranwachsenden, aufs Spiel.
Immer gibt es Menschen, die sich ihren Frieden durch den Krieg in anderen Gegenden der Welt erkaufen. Dies ist eine Erklärung dafür, dass in einem Land wie Afghanistan die Religionen einträchtig miteinander leben, es plötzlich aber einer fremden Nation gelingt, zwischen Schiiten und Sunniten einen Keil zu treiben. Die Moslems haben dieses Dilemma aber selbst zu verantworten, da sie in ihrer eigenen Religion nicht angemessen bewandert sind, um diesen Spaltungsversuchen etwas entgegensetzen zu können. Gelänge es, diesen instrumentalisierten Völkern ihren gemeinsamen Glauben in seiner liebenden Güte beizubringen, so wäre es so leicht nicht möglich, ihre Einheit durch die Betonung von wandelbaren Details zu spalten.
Es wäre zweckdienlich und sinnvoll, wenn sich unsere Politiker aktiv für Reformen und soziale Genesung von Menschen einsetzen könnten. Von Bedeutung ist die Einsicht, dass der Weg in einer Rückkehr zu Moral und Menschlichkeit zu finden ist, denn für die Welt gibt es keine besseren Rezepte als ein moralisches Menschsein. Ich spreche nicht im Namen einer bestimmten Ideologie, sondern über die Moral als ein Ergebnis menschlichen Fortschritts, eine Moral, die im Namen einer Pluralität moralische Verhaltensweisen als das Manifest einer moralischen Welt propagiert, die in allen Religionen, auch im Islam, eine starke Verankerung hat.
Die Bedeutung der Vernunft auf dem Weg zu Gelassenheit und Frieden
Wenn wir zu einer Welt in Gelassenheit und Frieden zurückkehren möchten, benötigen wir vernunftgeleitete Menschen, die den Stellenwert des Menschen im Kosmos kennen und seine Mission in der Schöpfung bestimmt haben. Wir brauchen Menschen, die sich ihren Mitmenschen gegenüber verantwortlich fühlen, solche, die ihre Freude mit anderen teilen und schließlich Menschen, die aus sich heraus einsichtig sind. Im Koran ist zu lesen, dass es einen Unterschied zwischen den Wissenden und den Unwissenden gibt. Wissende Menschen fühlen sich dem Göttlichen und dementsprechend auch dem Menschen näher.
Die Notwendigkeit der Aufklärung heißt, eine menschengemäße Grundlage für Bildung im Sinne des Allgemeinen zu schaffen. Dies ist unser einziger Weg, um uns aus den Ketten der Probleme zu befreien. In vielen Teilen der Welt können wir beobachten, dass die Jugend der elementarsten Bildung ermangelt. Was erwarten wir von einem Kind, das vor vierzig Jahren in der Ära der Taliban außer Krieg keine Bildung erfahren hat, deren Mentalität unmerklich aufgenommen hat und sich noch heute daran orientiert? Wir müssen uns die Frage stellen, wer in Afghanistan solche Verhältnisse etabliert hat, wer dafür haftbar zu machen ist und warum man diese große Nation nicht ihren eigenen Weg in Freiheit gehen lässt.
Die Globalisierung lehrt uns, dass wir alle in einem Boot sitzen und gezwungen sind, uns alles zu teilen. Wir müssen auf andere Rücksicht nehmen, wir sind gezwungen, Verantwortung zu übernehmen. Schließlich müssen wir einen Fahrplan des gemeinsamen Zusammenlebens gestalten. Globalisierung in diesem Sinne vermeidet, eine Klassengesellschaft herbeizuführen oder durch die Anstiftung von Unruhe für sich selbst Ruhe zu schaffen. Wir sind alle gemeinschaftlich verantwortlich für die Ruhe, Sicherheit und Stabilität in unserer Welt. Wer diese in Gefahr bringt, gefährdet auch sich selbst, denn die Grenzen unseres globalen Dorfes liegen nah beieinander. Der beißende Rauch aus dem einen Dorf reicht so weit, dass er die Augen der Bewohner aller anderen Dörfer zu Tränen reizen kann. Ruhe und Gelassenheit sind für alle eine Notwendigkeit. Das Gleiche gilt für Macht und Reichtum sowie für Freude und Genuss im Leben.
Ein solches Modell bezeichne ich als eine Ethik in der Koexistenz der Kulturen, die wir gemeinsam gestalten, um eine bessere Welt für uns und unsere Nachfahren zu schaffen. Die Voraussetzung hierfür liegt darin, die Eliten aller Kulturen in einer globalen Ethik zusammenzuführen, um kulturelle, politische, wirtschaftliche Wege als Fahrplan auszuarbeiten. Eine solche Entscheidung setzt Toleranz, Mut und freiheitliche Gesinnung voraus, um weiteren Schaden von unserer Welt abzuwenden.
Die Propheten aller Religionen sind deshalb auf Erden erschienen, um eine solche globale Ethik zu predigen und eine Fortentwicklung der Menschheit in diesem Sinne in Gang zu bringen. Leider müssen wir immer wieder beobachten, dass viele Gläubige, teils aus Unwissenheit, teils aus Halbwissen, konstruierte Bilder verinnerlicht haben und aus missverstandenen religiösen Lehren oder der erwähnten Vermischung von ewigen und wandelbaren Bedürfnissen eine Religion propagieren, die sie zum Sklaven ihrer eigenen religiösen Illusion werden lässt. Sie präsentieren einen verstümmelten Glauben, der niemandem hilfreich sein kann. Solche Menschen orientieren sich nicht am Maßstab der Vernunft, um religiöse Inhalte und Grundlagen zu verstehen, sondern sie setzen religiöses Halbwissen mit eigensinnigen Interpretationen als absolut.
Vernunft und Vernünftigkeit stellen die Grundlagen des Glaubens dar. Wie der Prophet Mohammad feststellt, ist derjenige, ›der keine Vernunft hat, auch nicht recht gläubig‹. Diese Aussage artikuliert, dass die Vernunft im Islam einen hohen Stellenwert einnimmt. Wer von seiner Vernunft keinen Gebrauch macht und alles hinnimmt, kann großen Schaden anrichten und sich selbst gefährden. Imam Ali hat zu Recht hervorgehoben, dass eine weitere Aufgabe der Propheten darin besteht, die verborgene Vernunft wieder zum Vorschein und zur Anwendung zu bringen.
Wir sollten nicht vergessen, dass dieser auf Vernunft beruhende Glaube tief im Islam verwurzelt ist. Er vermag uns Menschen zur Gelassenheit und Glückseligkeit zu führen. Vernünftiger Glauben bedeutet, anderen Religionen und Kulturen gegenüber respektvoll zu handeln. Das Gleiche gilt auch gegenüber dem Recht aller Nationen, und schließlich der Akzeptanz des Pluralismus sowie den Sitten und Gebräuchen der Völker. Dies bedeutet nicht nur Freiheit in der Religion, sondern auch politische, kulturelle und soziale Freiheit. Eine solche Haltung bedeutet den Verzicht auf eine stufentheoretische Wahrnehmung des Menschen in erster und zweiter Klasse und die Anerkennung von Werten und Normen der Völker.
Vernünftiger Glauben bedeutet, Menschen so wahrzunehmen, wie sie sind, und nicht, wie wir sie haben wollen. Er bedeutet, Freunde menschlich zu behandeln und Feinden geduldig gegenüberzutreten. Dies besagt, dass auch andere wie ich irrtümlich handeln können, dass jeder die Verantwortung für sein Tun und Lassen übernimmt und dass das Gesetz die Verhältnisse bestimmt. Vernünftiger Glaube bedeutet, jegliche Schwarz-Weiß-Sichtweise zu vernachlässigen, Gerechtigkeit zu suchen, Parteilichkeit zu vermeiden und die Würde der Mitmenschen zu schützen.
Von der Realisierbarkeit einer globalen Ethik
Man mag der Auffassung sein, ich sei ein Tagträumer oder würde einer Utopie nachjagen. Ich denke weder politisch noch philosophisch, und ein Heiliger bin ich schon gar nicht. Wenn dieses Rezept für die Überwindung der herrschenden Maßlosigkeit in unserem globalen Zusammenleben beachtet würde, würden wir definitiv in einer besseren Welt leben. Betrachten wir die Weltzusammenhänge genauer und nehmen wir alle Seiten der Problematik genauer unter die Lupe, so werden wir feststellen, dass uns die Zukunft schwierige Aufgaben bescheren wird, die wir nur mit dem geeigneten Instrumentarium und der geeigneten Denkart zu lösen vermögen. Die Revision unserer bisherigen Denkart als einer Grundlage unserer Entscheidung sehe ich als Möglichkeit für eine bessere Zukunft.
Unsere gegenwärtige Politik, Wirtschaft und Kultur beruht auf einer problematischen Grundlage, die uns viel Schaden beschert. Der sukzessive Beginn einer Epoche der globalen Ethik könnte hingegen uns allen förderlich sein. Viele Menschen haben auf die anstehenden Probleme hingewiesen und Lösungsperspektiven im obigen Sinne aufgezeigt. Gewiss ist eine globale Ethik nicht einfach zu installieren, dieses Ziel kann jedoch erreicht werden, wenn wir dessen Verwirklichung mit Tatkraft und Willen fördern. Ein solches Projekt kann nicht die Tat eines Einzelnen sein, sondern es bedarf einer globalen Bewegung. In unserem Zeitalter sollte der Mensch so weit gereift sein, um eine solche Einheit in der Vielfalt globaler Zusammenhänge herbeiführen zu können.
Meine Hoffnung ist die Blüte einer globalen Menschheit und einer menschlichen Globalität auf der Grundlage der Moral.