von Mohammad Razavi Rad
Im Folgenden geht es um den Versuch, die Frage nach den Menschenrechten aus islamischer Sicht darzustellen. Meine Überlegungen gliedern sich in drei Schritte. Im ersten Schritt diskutiere ich die Stellung des Menschen im Islam überhaupt. In einem zweiten Schritt gehe ich auf die Grundrechte des Menschen ein und analysiere das Recht auf Leben, Freiheit und Bildung. Diese sind drei Säulen der Grundrechte, aus denen sich eine Reihe weiterer Rechte speisen. Abschließend erläutere ich das Wechselverhältnis zwischen der Religion und Demokratie. Meine Auffassung ist, dass Demokratie und Religion ein dialogisches Verhältnis miteinander eingehen und gemeinsam einen dialogischen Weg der Verständigung ermöglichen können.
1. Die Stellung des Menschen im Islam
Jede Weltanschauung enthält ein gewisses Menschenbild, ja gründet wohl wesentlich auf Annahmen, die über Wesen und Stellung des Menschen gemacht werden. Im Qur´ân, der Offenbarungsschrift des Islam, werden zahlreiche Aussagen über das Verhältnis des Menschen zu Gott, zu Allah, seinem Schöpfer, gemacht – wie ja die Offenbarung als solche dies Verhältnis richten soll. So z.B. in 17:70: »Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt und sie über Land und Meer getragen und sie mit guten Dingen versorgt und sie ausgezeichnet – eine Auszeichnung vor jenen vielen, die Wir erschaffen haben.« So erscheint der Mensch als das beste der Geschöpfe. Dabei ist wichtig, dass vom Menschen allgemein, nicht von Einzelnen die Rede ist. Bei Gott bestehen Würde und Rechte des Menschen unabhängig davon, welcher Religion, Rasse, Kultur usw. er angehört. Die Botschaft ist demnach universal, der Mensch in der Lage, die Wahrheit über das Universum zu erfassen, seine Kenntnisse in allen Bereichen des Lebens zu erweitern. Er kann die schönsten moralischen Eigenschaften darstellen oder die Ursache für die übelsten Taten und Eigenschaften sein, und weil er diese beiden Gegensätze in sich trägt, ist er wertvoll und das vollkommenste Geschöpf des Universums: »Wahrlich, Wir haben den Menschen in bester Form erschaffen.« (95:4)
Wenn ein Mensch in bestimmten Bereichen oder im Hinblick auf Moral und Ethik besondere Fertigkeiten entwickelt, gewinnt er eine besondere Stellung und einen höheren Rang als andere. Das Grundprinzip des Islam und das Wesen der Religion ist die Einladung zur Menschlichkeit! Deshalb muss man den Menschen erst erkennen und seine Fähigkeit fördern, damit er seinen hohen Rang als Mensch erreichen kann. Imam Ali (Friede sei mit ihm) äußerte über das Edelste der Geschöpfe einmal: »Sie sind von zweierlei Art: entweder sind sie deine Geschwister im Glauben oder sie sind Geschöpfe wie du«[1] und dann fügt er nicht im Sinne einer ethischen Empfehlung, sondern als Befehl zur Staatsführung hinzu, dass die Rechte eines jeden Menschen beachtet werden müssen. Er ging sogar so weit, zu sagen: »Wer im islamischen Staat einen Nichtmuslim unterdrückt oder beleidigt, der hat mich unterdrückt und beleidigt.«[2] Dies findet auch Bestätigung durch den Propheten (Friede auf ihn!): »Gott liebt die Menschen mehr, die im Dienste der Menschen sind. Entsprechend heißt es im Qur´ân: »Wahrlich, vor Allah ist von euch der angesehenste, welcher der Gottesfürchtigste ist.« (49:13)
In der ›westlichen Welt‹ versuchte man, durch eine Erklärung der sog. Menschenrechte solchen Vorstellungen von Würde und der durch sie geforderten Duldsamkeit Vorschub zu leisten.
2. Grundrechte des Menschen
Ich beschränke mich in meiner Besprechung des Themas auf die drei wichtigsten Grundrechte, weil hier eine erschöpfende Behandlung den Rahmen sprengen würde.
Das Recht auf Leben
Nach islamischer Auffassung ist das Recht auf Leben eine allen Menschen gewährte Gnade Gottes. Keiner darf ein Leben zerstören: »Wenn jemand einen Menschen tötet, ohne dass dieser einen Mord begangen hätte, oder ohne dass ein Unheil im Lande geschehen wäre, soll es so sein, als hätte er die ganze Menschheit getötet; und wenn jemand einem Menschen das Leben erhält, soll es so sein, als hätte er der ganzen Menschheit das Leben erhalten.« (5:32) Jede Art der Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit käme einer Unterstützung der Ungerechtigkeit gleich.
Der Qur’an bezeichnet die schönste Form der Existenz als »reine Existenz«, ein Leben, in dem die Würde und der Rang des Menschen geachtet werden. Gott gewährt dem gläubigen Menschen, der nur gute Taten beabsichtigt, ein solches Dasein. Tötet man nicht die Seele des Menschen, wenn man ihn in seinem Bewusstsein beschränkt? Und geht nicht einer militärischen Auseinandersetzung zumeist eine ideologische »Gewalttat« voraus? – Die geistigen und seelischen Werte in der menschlichen Existenz sollen aber nicht ignoriert werden! Es soll grundsätzlich jeder Angriff auf einen Menschen oder die Menschheit insgesamt verurteilt werden, damit die Wurzel der Zwietracht (fitna) beseitigt wird. Aus qur’ânischer Sicht ist »fitna« die Vergiftung der reinen spirituellen menschlichen Existenz, die Verbreitung unmenschlicher Gedanken und unmoralischer Ideen, eine Unterteilung in erste und zweite Klasse oder zivilisiert und unzivilisiert usw., womit oftmals ein Angriff auf das menschliche Leben gerechtfertigt werden soll. Gott sagt im Qur’ân: »Und die Verführung ist schwerwiegender als Töten.« (2:217) Die Auswirkungen von Aufruhr und Zwietracht sind viel gefährlicher als das Töten eines Individuums.
Im Islam geht man von einem engsten Zusammenhang von Geist und Körper aus. Jede Spur der Seele wird sich auch im Leib manifestieren. In der vom Qur´ân geprägten Kultur gilt: »Und tötet euch nicht (gegenseitig)! Allah verfährt barmherzig mit euch. Wenn einer dies in Übertretung und in frevelhafter Weise tut, werden Wir ihn im Feuer brennen lassen, und das ist Allah ein leichtes.« (4:29, 30)
Das Recht auf Freiheit
Nach meinem Verständnis vom Qur´ân kann ich Freiheit nicht allein als ein menschliches Recht verstehen, sondern der Mensch selbst ist Freiheit. Wenn man den Menschen seiner Freiheit beraubt, hat man ihm seine Identität genommen, weil die Grenze der menschlichen Identität im Vergleich zu anderen Lebewesen diese Freiheit ist. Wenn dies so nicht im Qur’ân erwähnt und sein vermeintlicher Despotismus verurteilt wurde, dann deshalb weil Freiheit etwas schlechthin Vorauszusetzendes ist, wie die Luft zum Atmen oder das Leben selbst. Freiheit ist keine politische Errungenschaft, sondern eine Notwendigkeit, die mit der menschlichen Identität einhergeht. Man kann die Freiheit des Menschen einschränken, wenn die Gründe dafür schwerwiegender wiegen als der Schutz seiner individuellen Identität. Ich kenne aber keinen derartigen Grund!
Wir lesen im Qur´ân: »Und kein Prophet darf (etwas von der Beute) unterschlagen. Und wer (etwas) unterschlägt, soll das, was er unterschlagen hat, (zu seiner eigenen Belastung) am Tag der Auferstehung bringen.« (3:161) Ebenso darf kein Prophet einen Menschen zu einer bestimmten Idee zwingen und damit dessen Freiheit in Ketten legen, denn im Qur’ân wird dazu gesagt: »Und er nimmt ihnen ihre Last hinweg und die Fesseln, die auf ihnen lagen.« (87:157) Das bedeutet, Gott hat die Propheten entsandt, damit die Rechte und die Freiheit des Menschen gedeihen können und bewahrt werden. Es war nicht die Absicht der göttlichen Botschaft, dass die Menschen untätig dasitzen und ihre innovativen Gedanken in Ketten liegen. Ganz deutlich wird gesagt: »Und du hast keine Gewalt über sie« (50:45), d.h. du bist nicht Herrscher über den Willen der Menschen, sodass sie annehmen müssen, was du sagst. Du bist nicht nur kein Herrscher, du bist auch kein Vertreter der Menschen, sodass du für sie wählst oder nicht wählst: »Wir haben dich weder zu ihrem Hüter gemacht, noch bist du ihr Wächter.« (6:107) Sie leben ja selbst und haben ihren eigenen Verstand. Du kannst ihnen die göttliche Botschaft kundtun, aber sie müssen sich für oder gegen sie entscheiden! Was aber geschieht wenn sie ablehnen? »Kehren sie sich (vom Glauben) ab, so haben Wir dich nicht als deren Wächter entsandt« (42:48), d.h. du kannst sie nicht bevormunden. »Willst du also die Menschen dazu zwingen, Gläubige zu werden?« (10:99) – niemals heißt der Qur’ân Zwang gut, und es ist nicht die Absicht Gottes, dass Menschen um jeden Preis gläubig werden: »Und hätte dein Herr es gewollt, so hätten alle, die insgesamt auf der Erde sind, geglaubt.« (10:99)
Ferner: »Und sprich: ‚Es ist die Wahrheit von eurem Herrn.’ Darum lass den gläubig sein, der will, und den ungläubig sein, der will.« (18:29) Stellt man dies in Rechnung, hat die Einschränkung der Freiheit des Menschen im Islam keine vernünftige Rechtfertigung, vielmehr verurteilt der Qur´ân jeglichen Despotismus. Wie sollte man also die Ansicht vertreten, der Qur’ân oder der Prophet, dem Offenbarung gegeben wurde, würden die Freiheit des Menschen beeinträchtigen? Wie könnten wir religiös rechtfertigen, als religiöse Menschen über Akzeptanz oder Ablehnung der anderen wachen zu müssen? Wenn es eine reine Wahrheit gibt – und die gibt es –, wie kann man dann mit eingeschränkter Freiheit zu dieser Wahrheit gelangen?
Wäre die menschliche Freiheit beim Beschreiten des Weges zur Selbsterkenntnis und Menschwerdung eine Gefahr, sollte uns Gott durch die großen spirituellen Persönlichkeiten davor warnen. Hierzu gibt es jedoch keine Anhaltspunkte im Qur’ân oder in den Überlieferungen. Dazu heißt es vielmehr: »Gib denn die frohe Botschaft Meinen Dienern; es sind jene, die auf das Wort hören und dem besten von ihm folgen.« (39:17-18) Auch Imam Ali hat betont: »Der Mensch ist nicht als Gefangener auf die Welt gekommen, und die Menschen sind alle frei.« Von Imam as-Sadiq ist in Was überliefert[3]: »Die Menschen sind alle frei, außer jenen, die die Freiheit nicht wollen.« Imam Ali hat seinem Sohn einen Rat für alle Zeiten gegeben: »Sei niemals der gefangene Diener der anderen, denn Gott hat dich frei erschaffen!
Wenn der Islam den Muslimen empfiehlt, die Kaaba zu umkreisen, das »Haus der Freiheit« (22:29), dann ist diese rituelle Zeremonie eine Übung für den Muslim, dessen Gedanken einzig und allein um dieses Symbol der Freiheit kreisen sollen, wie es heißt: »Die Kaaba ist nur ein Zeichen, damit der Weg zum Ziel führt und das Ziel nicht verloren geht.« Die Abweichung vom Weg der Freiheit führt notwendig zur Gefangenschaft. Jeder Fortschritt im wissenschaftlichen, künstlerischen, ökonomischen, moralischen oder jedem anderen Bereich kann nur im Einklang mit Freiheit realisiert werden. Wer dem Menschen Freiheit vorenthält, verhindert, dass die göttliche Veranlagung des Menschen realisiert wird.
Die mangelnde Gedankenfreiheit in den religiösen Gesellschaften zerstört allmählich den Glauben der Menschen und wandelt Werte wie Reinheit, Tapferkeit, eine harmonische Identität usw. in Unwerte wie Zweigesichtigkeit, Heuchelei usw. In der Gemeinschaft gilt es, verantwortlich mit der Freiheit umzugehen, damit sie nicht missbraucht oder zur Gefahr wird.
Nach Tocqueville ist die Religion ein Garant der Freiheit, wie auch die Freiheit eine notwendige Bedingung für eine lebendige Religion ist. Wenn der Mensch die von der Gesellschaft und den Religionen anerkannte Freiheit ignorieren will, wird er sich bald ernsthaften Problemen gegenübersehen.
Das Recht auf Bildung und Gedankenfreiheit
Ein weiteres Grundrecht des Menschen ist das Recht auf Bildung, die Voraussetzung für die Wirksamkeit gemäß seiner Autonomie. Man sollte von einem Menschen mit rudimentärer religiöser Bildung nicht erwarten, dass er sein Leben religiös gestaltet. Ebenso kann man von einem Menschen, der die Gesetze nicht kennt, kein zivilrechtlich verantwortliches Verhalten erwarten. Der Qur’ân sagt: »Und verfolge nicht das, wovon du keine Kenntnis hast.« (17:36) Diese Betonung der Kenntnis und des Verstandes unterscheidet den Islam von anderen Weltanschauungen. Und dieser Aspekt wird auch im Verhalten der großen Persönlichkeiten, allem voran des Propheten deutlich. Imam Ali sagte z.B. zu seinem Gefährten Kumayl, dass er sich von einer Sache fernhalten solle, wenn er keine Kenntnis darüber habe. Ohne Kenntnis kann man keine richtige Entscheidung treffen. Deshalb möchte der Prophet, dass ihm Gott die Wahrheit der Phänomene deutlicher macht.
Wie jeder Mensch verpflichtet ist, Kenntnisse und Wissen zu erlangen, sind auch die für Kultur und Bildung Verantwortlichen in einer Gesellschaft verpflichtet, den Menschen entsprechende Möglichkeiten bereitzustellen. In unserer Epoche sind nicht jedem Informationen zugänglich, woraus eine gesellschaftliche Ungerechtigkeit resultiert. Umso wichtiger ist es für jeden Einzelnen, informiert zu sein, da Wissensunterschiede immer auch Machtunterschiede sind. Bewusstsein wird durch Wissen bestimmt. In der Religion verhält es sich ebenso. Wenn unsere religiöse Kenntnis den Möglichkeiten ihrer Zeit entspricht, wird sie den Menschen zu einem engagierten religiösen Menschen wachsen lassen; ist die Kenntnis von der Religion hingegen oberflächlich, von Irrtümern durchsetzt oder gar unzeitgemäß, resultieren Isolation, Rückschrittlichkeit und geistige Stagnation – letztlich sogar der Untergang einer Gesellschaft.
Gedankenfreiheit
Suche nach der Wahrheit ist dem Menschen ein Grundanliegen. Denken und Reflektieren sind seine besonderen Fähigkeiten. Wenn diese der Logik folgen, werden sie wertvolle Ergebnisse hervorbringen. Im Qur’ân lesen wir: »Wahrlich, als die schlimmsten Tiere gelten bei Allah die tauben und stummen, die keinen Verstand haben.« (8:22) Entsprechend ist vor Gott der schlechteste Mensch jener, der nicht nachdenkt. Ein persischer Dichter sagte, dass eine Stunde Nachdenken über den Sinn der Religion wertvoller sei als das jahrelange blinde Ausführen religiöser Rituale. In einer prophetischen Überlieferung heißt es, dass der Mensch erst durch Denken seine menschliche Persönlichkeit entwickelt, oder wie es in einem persischen Gedicht heißt: »O Mensch, du bist reiner Gedanke, sonst bestehst du aus Knochen und Haut; wenn dein Gedanke einer Blume gleicht, bist du wie ein Garten, und wenn dein Gedanke einem Dorn gleicht, bist du wie Brennholz für den Ofen.« Der Prophet hat treffend gesagt: »Wer keine Vernunft hat, hat keine Religion.« Aber auch die Religion selbst darf nicht unvernünftig sein. Im Qur’ân wird deshalb der Weg betont, der zu rationalem Denken und Vernunft führt. Je mehr die Religion diskutiert wird, desto mehr wird die göttliche Wahrheit manifest. Der Prophet sagte: »Wehe denen, die den Qur’ân lesen, denn der aus einem problematischen Qur’ânverständnis resultierende Schaden ist für den Gläubigen groß.
Leider ist die Denkkultur in gegenwärtigen islamischen Gesellschaften nicht vorbildlich. Wie kann man auf eine bessere Zukunft für den Islam hoffen, wenn Muslime die Nachahmung der Nachforschung vorziehen? Rumi dichtete: »Schön gesagt hat es der Prophet: ein wenig Verstand ist besser als Fasten und Gebet; denn das Wesentliche ist der Verstand, und die anderen zwei vervollständigt der Verstand.«
Grundlage der Offenbarung und der Entsendung von Propheten ist, die Idee, dass Menschen von ihrer Vernunft Gebrauch machen. Mit welchem Recht wird also das Denken unter Strafe gestellt?
Einen Widerspruch zwischen Vernunft und Religion haben jene verursacht, die mit wissenschaftlichen Erkenntnissen unverantwortlich umgegangen sind. Vernunft und Religion ergänzen sich. Ich wundere mich über jene, welche die Macht der Vernunft ignorieren. Die Stellung der Vernunft ist so hoch, dass einige jede Tat, die von der Vernunft gutgeheißen wird, als gut ansehen. Wenn der Mensch keine neuen Fragen stellen würde, würden wir keinen Fortschritt erzielen. Dies gilt insbesondere in der Philosophie, denn Philosophieren fordert zunächst Infragestellen, ein Stück weit ist es eine Notwendigkeit auch des alltäglichen Lebens. Die Vernachlässigung jener zutiefst menschlichen Fähigkeit kommt einer Isolierung der menschlichen Existenz gleich. Letztlich beweist jede gründliche Auseinandersetzung mit der Existenz der Vernunft letztlich ihre eigene Notwendigkeit. ›Es gibt keine rationalen Argumente gegen die Rationalität‹. Heute ist in der Philosophie die Bereitschaft zur geistigen Auseinandersetzung so groß wie nie zuvor. Wenn damit verantwortlich umgegangen wird, wird das Ergebnis der Menschheit dienlich sein. Problematisch wird es jedoch, wenn die Haltung in Feindseligkeit übergeht, dann ist an Überzeugung ohnehin nicht mehr zu denken.
Al-Kindî hat sich als erster islamischer Philosoph mit den Grundprinzipien der Philosophie beschäftigt, seine und die in der Zeit von Alghazali geführten Debatten hätten den Muslimen die beste Gelegenheit zur Vertiefung der jeweiligen Thematik bieten können. Doch Schriften wie ›Tahafut al-falasifa‹ und die unvollständige Antwort von Ibn Ruschd darauf bewirkten Unsicherheit und generelle Ablehnung der Philosophie unter den Muslimen. Sicherlich spielte die Einflussnahme damaliger Herrscher eine wesentliche Rolle, dass es zur generellen Ablehnung kam. Später wurden die Philosophen in der islamischen Welt isoliert und unterdrückt, denn die politischen Akteure im 3. und 4. Jh. n.H. hatten keinerlei Interesse an einer Aufklärung in der islamischen Zivilisation. Ein solch engstirniges Verhalten der Potentaten, egal wann es geschieht, vernichtet gleichsam das Lebenselement der Philosophie, führt zu einer geistigen Verarmung und kann Erneuerungen stark behindern. Der Fortschritt der heutigen Philosophie ist das Ergebnis von freien Diskussionen. Ibn Sina versuchte mit seinem Werk Al ischarat wa Al Tanbihat, Mystik und Shariyah miteinander zu verbinden. Auch Molla Sadras Philosophie ist ausgesprochen pluralistisch. Jeglicher Dogmatismus und erzwungene Begrenzungen sind mit wissenschaftlichem Denken unvereinbar.
Wir sehen heute, wie wir zur Erforschung der Wahrheit auf alle wissenschaftlichen Disziplinen angewiesen sind. Wenngleich die Wissenschaften sehr unterschiedliche Sprachen haben, helfen sie doch, den Schleier zu heben. Ebenso könnte der Mystiker niemals ohne Zuhilfenahme der Vernunft das Wesen des Universums verstehen; und wie sollte etwa der Philosoph ohne Iman, ohne Qur´ân zu vollständiger Gotteserkenntnis gelangen? Die Wissenschaften sind eng miteinander verbunden – warum sollte also ein vernünftiger Gedankenaustausch unter Denkern und Glaubenden ausgeschlossen sein? Solange aber unterschiedliche Meinungen nicht geäußert werden, können wir die Wahrheit auch nicht prüfen, geschweige denn beweisen. Meinungsfreiheit ist daher Voraussetzung freien, wissenschaftlichen Denkens.
Rumi sagt: »Der Mensch ist unter der Zunge versteckt, und diese Zunge ist für den Menschen ein Vorhang.« Sprache birgt viele Geheimnisse der Menschheit in sich, und wie ein offenes Fenster kann sie den Blick auf Gedanken freilegen. Sie kann aber auch, wenn sie unverantwortlich oder gar manipulativ genutzt wird, großen Schaden bewirken. Mit dem Recht auf Meinungsfreiheit sollte daher stets vernünftig und gerecht umgegangen werden. Rumi sagt weiter: »Die Sprache ist wie ein Stein, ein Stück Eisen. Was sie verursacht, gleicht einem Feuer, und ein Wort kann eine Welt vernichten.« Wird das Wort ein Pfeil, der Menschen verletzt, wäre keinem vernünftigen Zweck gedient. Meinungsfreiheit bedeutet nicht, dass nach Belieben und ohne alle Bedenken alles ausgesprochen werden kann, um das Weitere dem anderen zu überlassen. Der Mensch ist ja kein Gott, der die geheimen Absichten der Menschen kennt. Wie also die Meinungsfreiheit das Unterpfand der Wissenschaft ist – so bleiben Takt und gute Manieren erforderlich. Am Ende stehen zwei Pflichten des Menschen: der Mensch soll seine Wünsche äußern und seine Rechte beanspruchen, dabei jedoch die Wünsche und Rechte der Gesellschaft nicht verletzen.
3. Islam und Demokratie
Athen gilt als Modell für die Kulturleistung der Demokratie, obgleich die beiden größten Denker jener Zeit, Aristoteles und Platon, davon nicht überzeugt schienen. Platon hatte Bedenken aufgrund der Naivität der Massen, Aristoteles sah in der Demokratie eine defiziente Regierungsform. Die Gründer der Vereinigten Staaten betrieben die Demokratie mit Misstrauen als ein System, in dem nur die (vermeintlich vernünftigeren) Männer wählen und das Schicksal der Gesellschaft bestimmen konnten. Einstein berichtet, er habe einmal mit einem klugen Amerikaner gesprochen und ihn vor der Gefahr des Krieges und der daraus resultierenden Vernichtung der Menschheit gewarnt, woraufhin jener ihn fragte, warum er dagegen und um die Menschheit besorgt sei? Will Durant stellte in der Blüte der Demokratie die Frage, ob die Demokratie verloren habe, und er erklärte: Je mehr ich die Demokratie untersuche, desto bewusster wird mir deren Unfähigkeit und Heuchelei. Die Unwissenheit der Masse und deren Instrumentalisierung durch die politischen Akteure sieht er als Ursache für das Scheitern der Demokratie. Für Spengler nützt Demokratie nur den Reichen.
Wie Pluralismus stets unterschiedlich definiert wurde, gibt es auch verschiedene Definitionen von Demokratie. Insgesamt kann gesagt werden, die Welt bestehe aus Menschen mit verschiedenen individuellen, eigenständigen Identitäten, die nicht aufeinander zu reduzieren sind. Schließlich führte jedoch die rechtfertigende Verteidigung der Demokratie im 17. und 18. Jh. zu gesellschaftlicher Akzeptanz und institutionalisierte Entwicklungsformen, die eine Verbreitung der Kultur der Demokratie bewirkten. Heute propagiert Habermas die Verwirklichung einer Demokratie, an der die Masse mehr Anteil hat; er sieht den freien Vernunftgebrauch als notwendige Voraussetzung von Demokratie und eine friedliche Machtübertragung und Machtausübung. Letztere sie Grundlage für die Zufriedenheit der so politisch Organisierten. In seinem Sinn kann man die modernste und am weitesten entwickelte Form der Demokratie als legitime Partizipation der Masse verstehen.
Es gibt aber auch andere Interpretationen von Demokratie, die oftmals gar widersprüchlich sind und die in einer möglichen Instrumentalisierung resultieren können. Dieses Problem sehen jene, die einen Missbrauch der Demokratie befürchten. Deshalb soll jede Instrumentalisierung der Demokratie verhindert werden. Die schlimmste Form einer solchen Instrumentalisierung zeigt sich etwa in einer »demokratischen Erzwingung«: in Amerika z.B. waren die Menschen mehrheitlich gegen den Irakkrieg – dennoch wurde er gegen diese Mehrheit beschlossen und in fataler Weise geführt. Diese Schwäche der Demokratie ist eine bittere Erfahrung, die verdeutlicht, wie menschliche Gesellschaften Demokratie brauchen.
In gleicher Weise werden Verbrechen im Namen des Islam keinen Verzicht der Muslime auf den Islam bewirken. Es gibt keine einheitliche Erscheinungsform oder Handhabungsweise der Demokratie, über die Konsens herrscht. Sind die Demokratien in Frankreich und Irland, Italien und England oder den USA und Indien gleich? Wurzelt die Demokratie eines Landes nicht in der Denkart, in der Kultur der jeweiligen Bevölkerung? Wenn dem so ist, muss es diesen Menschen erlaubt sein, eine für sie geeignetere Definition von Demokratie zu finden. Ist es kein Widerspruch in sich, von einem einzigen Demokratiemodell auszugehen? Darf man schließlich jemanden kritisieren, der für ein bestimmtes Demokratiemodell eintritt? So erscheint die humane Demokratie schlimmstenfalls als Instrument weltpolitischer Machthaber. Die Demokratie erscheint wie ein Messer zum Schälen köstlicher Äpfel; stattdessen wird es aber zum Schälen der Haut von Menschen missbraucht! Deshalb muss der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis der Demokratie überwunden werden, damit die Menschen fest an sie glauben! Man sollte aber auch nicht meinen, die Demokratie sei so etwas wie das »Ende der Geschichte«, als sei mit ihr alles beendet. Es darf nur nicht ›die kreative Kraft des Menschen‹ versagen! Warum sollte der fortschrittliche Mensch unserer Zeit, der sich vom Dogmatismus befreit hat, von anderen Konzepten als der Demokratie beunruhigt werden?
Die Demokratie resultiert aus Pluralismus, Vielfalt, Mannigfaltigkeit. Toleranz ist ein Merkmal des Pluralismus, wohingegen Dogmatismus damit unvereinbar ist. Stärke kennzeichnet die Demokratie, die niemals vom Dogmatismus bestimmt werden kann. Einen Vergleich die Religion gegen die Demokratie ins Feld zu führen – oder umgekehrt – halte ich für sachlich nicht richtig, dennoch will ich versuchen, den relevanten Punkt hier kurz zu klären: Die Geschichte im Sinne eines Zeugnisses menschlichen Bemühens vergangener Generationen lehrt uns, wie auch Soziologen und Historiker bestätigen, dass Gedanken, die nicht auf reiner Vernunft und Gedankenfreiheit basieren, früher oder später dogmatisch und absolut werden und Gedanken zerstören. Der Islam belegt seine Wahrheit mit Beweisen, und folglich kann man keine argumentativen Theorien ablehnen. Ich halte die Demokratie trotz aller Mängel für eine für die Menschen glückliche, erfolgreiche Erfahrung, die Machtkonzentration und Machtmissbrauch verhindern. Alvin Toffler meint, Macht basiere auf drei Säulen: Herrschaft, Besitz, Wissen. Ich glaube, dass vernünftig gelebter Pluralismus jede Art von Despotismus, ob einheimisch oder fremd, verhindern hilft, und wir haben mit eigenen Augen den Untergang des Despotismus und der Unfreiheit sowie den Sieg der Demokratie beobachten können.
Wie die Demokratie impliziert auch der Islam Prinzipien wie Ablehnung von Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, die Notwendigkeit der Beteiligung des Volkes an der Macht, die Geltung von Menschenrechten, freien Wahlen. Im Qur’ân heißt es dazu: »Sprich: ›O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem gleichen Wort zwischen uns und euch, dass wir nämlich Allah allein dienen und nichts neben Ihn stellen und dass nicht die einen von uns die anderen zu Herren nehmen außer Allah.‹« (3:64). Die Anerkennung anderer Religionen und Gedankenfreiheit ist wie die Distanzierung von Dogmatismus und Despotie ein Zeichen der Vollkommenheit im Islam. Imam Ali brachte dies mit folgenden Worten zum Ausdruck: »Jede dogmatische Stimme bedingt Untergang.«
Der Gebrauch bestimmter Begriffe wie z.B. »religiöse Herrschaft der Masse«, »Zivilgesellschaft«, »religiöser Pluralismus« usw. geht in bestimmten islamischen Gesellschaften mit dem Bestreben kluger Menschen einher, ein neues Demokratiemodell zu entwickeln, das mit der Kultur, Gesellschaft und Politik dieser Gesellschaften kompatibel ist. Eine Kopie schon etablierter westlicher Demokratien wäre jedoch unvernünftig; vielmehr sollten die Erfahrungen der Menschen in der westlichen Welt mit der Demokratie berücksichtig werden – sodass die Menschen andernorts ihre Probleme besser und selbstbewusst lösen lernen.
Unter Berücksichtigung aller Stärken und Schwächen der Demokratie steht fest:
- Demokratie ist für den heutigen Menschen eine Notwendigkeit, trotz ihrer Schwächen.
- Die Betonung freier Wahlen in der Demokratie als beste Methode zur Verhinderung von Anarchie und Machkonzentration bei einer Partei oder Person widerspricht nicht den islamischen Prinzipien.
- Demokratie kann in verschiedenen Ländern unterschiedlich geprägt sein.
- Die Gestalt und Inhalte der Demokratie müssen offen bleiben.
- Die internationale Gemeinschaft muss Garant der Demokratie sein, damit diese nicht von einzelnen Supermächten missbraucht werden kann.
- Die praktische Verwirklichung von Demokratie und die Beteiligung der Mehrheit der Menschen an ihrem Schicksal bedarf einiger Voraussetzungen, die von vielen Staaten absichtlich oder aus Nachlässigkeit unberücksichtigt bleiben. Praktisch entscheidet eine bestimmte Gruppe für alle anderen.
- Jeder Gesellschaft muss eine ihren Verhältnissen entsprechende Interpretation von Demokratie zugestanden werden.