Dr. M. Razavi Rad
Direktor des Instituts für Human- und Islamwissenschaften
„Der Islam muss reformiert werden“. „Der Islam ist reformunwillig.“ „Der Islam muss abgeschafft werden.“ […]
Das sind Statements, mit denen wir sowohl in sozialen Netzwerken als auch in der etablierten Medienwelt konfrontiert werden. Der Islam erscheint kontroverser denn je und dies in all seinen Facetten. Er ist als Diskussion in einem reinen religiösen Zusammenhang kaum mehr vorstellbar. Um so dringender ist es deshalb, theologisch kurz aufzuarbeiten, was eigentlich Reform aus islamischer Sicht bedeutet.
Gott als der erste Reformer
Tatsächlich tritt Gott selbst im Koran als Reformer auf, indem er Gesandte und Propheten auf die Welt entsendet, die die jeweiligen Gesellschaften, ja selbst von Gott begründete monotheistische Gesellschaften, zu reformieren haben. Folglich sind muslimische Reformbestrebungen keineswegs Ideen, die dem Islam von außen zugetragen werden, sondern sie sind inhärent islamisch.
Gesellschaftliche Basis als Voraussetzung
Nach islamischer Vorstellung basiert eine Reform auf zwei Säulen, zum einen auf der Idee, zum anderen auf die Umsetzung. Das heißt, dass die Methode der göttlichen Reformierung versucht, durch die Umsetzung einer vorausgegangenen Idee eine Reform herbeizuführen.
Doch wer kann im islamischen Kontext eine konstruktive Reform durchführen?
Ein Beispiel ist der islamische Prophet Muhammad ibn Abdullah, der vielmehr ein Reformer als ein Revolutionär war. Die Berufung Muhammads zum Propheten geschah in einer Zeit, als dieser in seinen ersten vierzig Lebensjahren bereits sehr viel Vertrauen in seiner Heimatstadt Mekka gesammelt hatte. Dieses Vertrauen durchbrach jegliche konfessionelle und tribale Trennlinien im pluralistischen Mekka, galt er doch unisono als „der Vertrauenswürdige“ und erhielt dementsprechend den arabischen Beinamen Al-Amin. Durch seine charakterlichen Vorzüge hatte er eine starke Basis, womit er seine kriegsgeschüttelte Gesellschaft zum Frieden reformieren und vereinigen konnte.
Demzufolge ist klar, dass Reformen im Islam nicht durch Islamkritiker oder Menschen, die keine Basis in der muslimischen Gemeinschaft haben, zu bewerkstelligen sind. Allenfalls könnten sie Impulsgeber sein, insofern es sich um konstruktive Kritik und nicht um absichtlich polarisierende Effekthascherei handelt.
Reformen müssen mit den Faktoren Ort und Zeit harmonisieren
Der Begriff „Reform“ findet sich im heiligen Buch der Muslime und der wichtigsten Geistesquelle des Islams, nämlich im Koran, als Islah wieder. Dieses arabische Wort ist semantisch gesehen als Verbesserung, aber interessanterweise auch als Aussöhnung zu verstehen. Es ist von der Wortwurzel ṣ-l-ḥ abgeleitet, die die Bedeutung gut, richtig, rechtschaffen, redlich, brauchbar und passend hat. Islah ist das Substantiv dieser Wortwurzel und hat die Bedeutung von „eine Aussöhnung herbeiführen“, „in Ordnung bringen“ oder „für geordnete Verhältnisse sorgen“.
Damit wird schon rein semantisch deutlich, dass eine Reform, wenn sie eine islamische sein will, einerseits islamische Ziele von gut, richtig, rechtschaffen und redlich zu beinhalten hat, aber andererseits auch mit der jeweiligen Zeit zu harmonisieren hat. Sie muss brauchbar und passendsein und mit der neuen Situation eine Aussöhnung herbeiführen, um Missstände in Ordnung zu bringen und geordnete Verhältnisse wiederherzustellen.
Das Leben existiert auf dem Fundament der Zeit. Und diese ist in einem stetigen Wandel, sie erneuert und entwickelt sich fortwährend weiter. Oder wie es der unter Sunniten und Schiiten verehrte Dichter und Gelehrte Dschalal ad-Din ar-Rumi sagt: „Mit jedem Atemzug verändert sich die Welt und wir.“ Wenn also Regelwerke und Bestimmungen nicht mit dem Wandel der Zeit Schritt halten, verlieren sie den Bezug zum zeitgemäßen Leben. Dabei verliert sowohl das Individuum als auch die Gesellschaft die Möglichkeit zur Weiterentwicklung. Gleichwohl kann eine islamische Reform selbstredend nicht die Abschaffung von islamischen Grundsätzen und -regeln zum Ziel haben, sondern vielmehr werden diese unter Berücksichtigung von Ort und Zeit mit Hilfe der islamischen Rechtsfindung (im Fachjargon: Ijtihad) modifiziert.
Die gescheiterte Reform: Der Wahhabismus
Abschließend möchte ich auf ein Beispiel einer Reform des Islam hinweisen, die die Faktoren Ort und Zeit nicht berücksichtigt: der Wahhabismus.
Der Wahhabismus ist eine junge, seit dem 18. Jahrhundert entstandene islamische Reformbewegung – ausgehend von der Arabischen Halbinsel, später mit saudischen Petrodollars weltweit exportiert – die aus ihrer Sicht eine Reinigung von “verhunzten” muslimischen Praktiken anstrebt.
Demnach müsste jede religiöse Handlungsnorm aus dem Koran und den prophetischen Überlieferungen (im Fachjargon: Sunna) direkt entnommen werden. Der Denkfehler, der hierbei begangen wird, ist der, dass man meint, das religiöse Bestimmungen, die zu Lebzeiten des Propheten im 7. Jahrhundert erlassen wurden, eins zu eins in die Gegenwart zu übertragen sind und jede Abweichung davon als verdammenswerter Bruch mit dem Islam verstanden wird.
Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: Wenn auf religiösen Bestimmungen bestanden wird, deren ursprüngliche Sinnhaftigkeit während des Erlasses nicht mehr in einer anderen oder gegenwärtigen Gesellschaft vorliegt, vollzieht sich der Bruch mit dem göttlichen Willen. In der deutschen Sprache spricht man in diesen Fällen passend von “nicht im Sinne des Erfinders” oder mit anderen Worten: “nicht im Sinne des göttlichen Gesetzgebers”.
Eine Rechtslogik, die vergeblich versucht, mit aller Kraft überkommene Normen wiederherzustellen, führt bestenfalls zu Frust und schlimmstenfalls zu Gewalt. Es kommt daher nicht von ungefähr, dass sich heute die meisten islamisch gefärbten Terrororganisationen (IS, Al-Qaida, Taliban, Boko Haram usw.) auf die Lehre des Wahhabismus berufen, die weder mit westlichen noch mit islamischen Normen und Werten vereinbar sind. Diese Reform des Islam ist keine Erneuerung auf den islamischen Grundlagen von Vernunft, Ort und Zeit, sondern ein “verdammenswerter Bruch mit dem Islam” – mit katastrophalen Folgen.
Um so ärgerlicher ist daher die weitverbreitete Vorstellung in diversen Medienhäusern, dass der Wahhabismus den “wahren Islam” ausmachen würde und seine Anhänger “wahre Muslime” wären.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog - Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 17 • Heft 32 & 33 • Jahr 2018