Dr. M. Razavi Rad
Direktor des Instituts für Human- und Islamwissenschaften
Seit längerer Zeit hat sich im Diskurs über den Islam ein mediales Phänomen eingeschlichen, dass sich bis heute hartnäckig hält: Typische Probleme, die Migranten betreffen, werden in Bezug auf Muslime nicht soziologisch, sondern zunehmend als Probleme, die religiös begründet sind, aufgearbeitet. Man könnte hierbei von der “Islamisierung sozialer Probleme” sprechen.
Auf der anderen Seite ist es bemerkenswert, dass positive Klischees und Eigenschaften der Muslime wiederum nicht mit dem Islam in Verbindung gebracht werden. Diese scheinen nach medialer Darstellung wohl keinen kausalen Zusammenhang mit ihrer Religion zu haben und sind wohl einfach so vom Himmel gefallen, könnte man meinen. Na ja, Letzteres wäre auch nicht ganz falsch, glauben doch Muslime, dass ihre Religion – und toleranterweise die ihrer abrahamitischen Geschwister – Himmelsreligionen seien.
Aber bleiben wir bei dem urbezweckten Verständnis dieser Redewendung: Wenn Muslime Böses verüben, so bedingt dies ihre islamischen Religiosität. Begehen sie aber etwas Gutes, so hat ihre Frömmigkeit keinen Anteil daran.
Dass das natürlich nicht so stringent sein kann, erschießt sich den Intellektbefähigten sicherlich ohne große Erklärungen. Daher soll im Folgenden nicht dies erläutert werden, sondern der religiöse Beweggrund skizziert werden, der Muslime in der Regel dazu “verleitet”, so gastfreundlich zu sein:
Stellenwert von Gastfreundlichkeit
Gastfreundlichkeit besitzt einen sehr hohen Stellenwert im muslimischen Leben. Die überlieferte Lebensweise des Propheten des Islam, Muhammad ibn Abdullah, war stets von Gastfreundschaft geprägt. Es war für ihn unabdinglich gewesen, Gäste zum Essen einzuladen und diese an den “Gaben Gottes” teilhaben zu lassen. Muslime orientieren sich an dieser Lebensweise ihres Vorbildes.
Es wird dem Propheten nachgesagt, gesagt zu haben: „Wer auch immer an Gott und den Jüngsten Tag glaubt, soll seinen Gast großzügig behandeln.“ Weiter ist von ihm überliefert: „Ehre den Gast, auch wenn er kein Muslim ist.“ Und als jemand den Propheten fragte, ob er einen Gast bewirten soll, obwohl dieser ihm zuvor keine Bewirtung und Gastfreundschaft zuteilwerden ließ, antwortete der Prophet klar: „Bewirte ihn!“
Angesichts der Fülle von prophetischen Überlieferungen über die Preisung der Gastfreundschaft gibt es muslimische Rechtsgelehrte, die sogar von einem einforderbaren Rechtsanspruch auf Bewirtung und Gastfreundschaft ausgehen. Immerhin gelten laut einem muslimischen Ausspruch die Gäste ja als Freunde Gottes.
Diese Tradition wurde bereits von den vorislamischen Propheten gelebt, und Muslime denken, dass es ein Brauch des Propheten Abrahams war, nie ohne einen Gast zu speisen. Der Koran berichtet in der Sure 51, Vers 24-27 über den Urstifter des Judentums, Christentums uns Islams: “Kam zu dir die Nachricht von den Gästen Abrahams? Wie sie bewirtet wurden? Als sie eintraten bei ihm und ihn grüßten und er ihren Gruß erwiderte? ‘Das sind Fremde’, dachte er sich und ging schnell zu seiner Frau. Ein kräftiges Kalb ließ er zubereiten und bat: ‘Aber bitte, wollt ihr nicht essen?’“
Diese Erzählung gründet in der biblischen Erzählung des 1. Buches Mose, Kapitel 18. Bekanntlich gelten Muslime aber als „bibelfestere Gläubige“ und praktizieren diese Tugend mit großer Leidenschaft. Ziel und Zweck dieser abrahamitischen Praxis ist der Austausch an Zuneigung und Ideen. Der Prophet Mohammed selbst sagte: “Das Besuchen sät die Zuneigung.”
Gastfreundschaft als ein Schlüssel zum besseren Verständnis
Die steigende Individualisierung von Gesellschaften führt hingegen zu einem fortschreitenden Aussterben dieser Besuchskultur. Dies ist vermutlich auch einer der Gründe dafür, dass Menschen verschiedener Kulturen sich voneinander mehr fremd fühlen und – infolgedessen – weniger Verständnis füreinander besitzen.
Ohne richtige Kenntnis vom Anderen, bleibt das Unbekannte unbekannt und die Distanz zueinander vergrößert sich weiter und bildet den Nährboden für Missverständnisse und Misstrauen. Gastfreundschaft bildet die Grundlage, um einander kennen zu lernen. Sie gibt die Chance, die Gesellschaft von Missverständnissen zu reinigen, und sich der angeblichen Barrieren, die die Kulturen vorgeblich voneinander trennen, zu entledigen.
Es ist eine Zeit angebrochen, in der der direkte Kontakt zu den Mitmenschen immer weniger wird und der Austausch von Gedanken zunehmend anonym über das Internet vonstattengeht. Deshalb ist es in der Gegenwart um so wichtiger, den unmittelbaren Kontakt zu andersdenkenden Menschen aufzubauen, zu pflegen und aufrechtzuerhalten. Die Anhänger der verschiedenen Religionen können sich nur durch eine klarere Vorstellung voneinander auf gemeinsame Grundlagen besinnen.
In einer Parabel des vielzitierten muslimischen Gelehrten Dschalal ad-Din ar-Rumi wird folgende Geschichte erzählt:
Ein Iraner, ein Türke, ein Araber und ein Grieche waren gemeinsam auf der Reise zu einem fernen Land, als sie an einer Ortschaft eine Rast einlegten, um etwas zum Essen zu kaufen. Sie hatten jedoch nur noch eine Münze übrig. So fingen sie an, darüber zu diskutieren, für welches Lebensmittel sie diese Münze ausgeben sollten. Alle wollten etwas Bestimmtes haben. Der Iraner wollte Angur haben, der Türke aber sagte, er wolle Üsüm haben, der Araber wiederum sagte, er wolle Inab haben; und der Grieche sagte, er möchte Stafil haben. Als dann jeder von ihnen auf seinen Wunsch bestand, entstand eine hitzige, emotionsgeladene Diskussion. Ein Weiser, der gerade des Weges kam, hatte die Streiterei zwischen den vier Reisenden mit angehört und sagte zu ihnen: „Gebt mir die Münze und ich verspreche euch, dass ich jedem von euch das bringen werde, was er wünscht.“ Die vier Reisenden waren einverstanden und gaben dem Sprachkundigen die Münze, der damit zum nächstgelegenen Laden ging und vier Zweige Weintrauben kaufte. Als er dann zurückkam, übergab er jedem der Reisenden einen Zweig. „Das ist mein Angur!” rief der Iraner. „Aber nein, das ist doch mein Üzüm!”, sagte der Türke. „Du hast meinInab gekauft!”, rief der Araber. „Nein! In meiner Sprache heißt dieses Obst Stafil“, sagte wiederum der Grieche. So fingen die Reisenden an zu realisieren, dass sie alle im Grunde denselben Wunsch hatten, nur wussten sie nicht, diesen Wunsch dem jeweils anderen verständlich zu artikulieren.
Diese Geschichte lässt sich sinnbildlich auf die verschiedenen Religionsanhänger übertragen, die nach demselben Ziel suchen und die gleichen Wünsche hegen, diese jedoch nur unterschiedlich formulieren. Der Weise klärte die Menschen darüber auf, dass das, was sie in unterschiedlich bezeichneten Religionen suchen, in Wahrheit eine einzige einheitliche Sache ist. Die göttlichen Religionen sind nichts anderes als verschiedene Wege, die aber zu einem einzigen Ziel führen. Sie sind miteinander verwandt, ohne dabei gleich zu sein. Der Prophet Mohammed beschreibt dies wie folgt: „Die Wege zu Gott sind so vielfältig wie die Anzahl der Menschen, die es auf der Erde gibt”.
Die Menschen sind in diesem Sinne anzunehmen, wie sie sind, und nicht wie man sie sich wünscht. Und gerade dies erlernt man durch das rege Empfangen von Gästen und eine Gastfreundlichkeit der Herzen.
Quelle:
© Institut für Human- und Islamwissenschaften e.V.
Dialog - Zeitschrift für Interreligiöse und Interkulturelle Begegnung
Jahrgang 16 • Heft 30 & 31 • Jahr 2017